Blutrot von Hoppelhaeschen ================================================================================ Kapitel 1: Adrenalin pur ------------------------ Adrenalin pur Too bad „Ähh… nein“, stotterte ich perplex und warf einen Blick auf den Kameramann vor mir. Er zog mit dem Zeigefinger neben seiner Schläfe kleine Kreise und ich grinste unwillkürlich. „Da fehlt das ‚i’“, krächzte die Alte Dame erneut. Ich hätte mir beinahe an die Stirn gefasst, doch das würde die Einschaltquoten wohl nicht gerade in die Höhe treiben. Stattdessen erzwang ich mir ein, wie ich hoffte, verständnisvolles Lächeln. „Nein, nein. Sie sollen doch die Liter zählen, und nicht… ähm…“, sagte ich und blickte mich nervös um. „Da fehlt das ‚i’!“, brüllte sie beinahe in den Hörer und ich verkniff mir das Lachen. „Hören sie, ich, wir, uu~und da ist unsere Sendezeit auch schon vorüber!“, plapperte ich rasch und zuckte mit den Schultern, „morgen um diese Zeit wird mich wieder mein Kollege vertreten, ich wünsche Ihnen eine Gute Nacht, tschüü~üs!“ Der Kameramann vor mir zählte flüstern von zehn bis null runter, in dieser Zeit lächelte ich wie eine Bekloppte in die Linse, und rief laut „Out“, als er die Kamera endlich abschaltete. „Ouhh“, stöhnte ich und ließ mich auf dem Hocker hinter den Kulissen nieder. „Es gibt jeden Tag einen anderen“, meinte meine Regie mitleidig und ich nickte ihm lächelnd zu. „Ich gehe jetzt… dann mal, tschüss und, viel… Glück noch“, stammelte ich und fuhr mir unbeholfen durch die Haare. Ich wollte nicht zu lange bleiben, denn dann hätten diese Freaks eventuell noch Zeit, mich zu bitten, ein weiteres Mal für meine blöde, kranke Schwester und Moderatorin einer dieser abzockenden Gameshows, einzuspringen. Nein danke, ich nehme das Geld, und das war’s. „Ach, Rose, tolle Show, wir könnten dich hier gut gebrauchen“ Ich riss die Augen auf und taumelte einen Schritt zurück. Der Kameramann schrie laut auf, als ich ihm auf den Fuß trat. „Entschuldigung!“, platzte ich schnell heraus, „Aber, ich, das war nur eine Ausnahme, ich hab doch noch die Schule und das macht eine Menge Arbeit“, meinte ich rasch und griff nach meinen Schal und meinem Mantel, „Aber es hat viel Spaß gemacht, danke schön, tschüss!“ Endlich wieder mit den Augen zu rollen tat so gut! Auf den Spitzen meiner Zehenspitzen tippelte ich in das Zimmer meiner Schwester. Es war schwer zu erkennen, ob sie noch wach war, oder schlief. Das Licht war zwar aus, aber wir beide hatten die Eigenschaft, noch ewig lange im Bett wachzuliegen und über die trivialsten Dinge nachzudenken, bis unsere Körper dann letztendlich zu matt waren, um es noch länger auszuhalten. Es kam nicht selten vor, dass das erst fünf Uhr morgens der Fall war. Ein leises, gedämpftes Kichern verriet mir, dass ich mit meiner Vermutung recht gehabt hatte. „Lily!“, Ich betätigte den Lichtschalter neben mir. „Was hast du mir nur angetan?“, nörgelte ich und ließ mich neben ihr auf der Bettkante nieder. Sie hatte sich die Bettdecke über den Kopf gezogen und gackerte in das Laken hinein. „Oh Gott, Rose, wenn doch nun mal das ‚i’ gefehlt hat!“, lachte sie und lugte zu mir hinauf um meine Reaktion abzuschätzen. Ich schnitt eine Grimasse. „Ich schwöre dir, die Alte hatte ich auch schon ein paar Mal. Dann musst du einfach sagen: ‚Oh sehr gut, vielen, vielen Dank. Dafür bekommen Sie einen Trostpreis von zehn Euro, meine Liebe.’ Dann lässt sie’s bleiben!“ Mittlerweile hatte sie sich ganz aufgesetzt und ich hatte mich in die Kissen fallen lassen. „Ltr. ist doch aber nun mal eine legitime Abkürzung. Soll ich dann dem nächsten, der mir sagt, dass dann ja auch noch das ‚e’ fehlt, zwanzig Euro zugestehen?“, maulte ich und fand das alles beinahe selbst schon komisch. „Aber klar“, sagte Lily, „Wenn dann noch das ‚e’ fehlt, hat derjenige sich eine Belohnung verdient.“ „Wie kannst du dir so was nur antun?“ „Oh, das ist ganz einfach zu beantworten, aber weil ich das so gut kann, machen wir ein Rätsel daraus“, sie räusperte sich, „Also, den Gegenstand, von dem ich rede, den gibt es als Papier, oder auch Scheine genannt…“ „Toilettenpapier!“, unterbrach ich sie lautstark. „Nein, nein, nein“, sie tätschelte meinen Kopf wie das eines Kleinkindes, „Lass mich ausreden, Rosi“, ich knurrte leise, sie wusste genau, dass ich es hasste, so genannt zu werden, „Und dann gibt es dasselbe auch noch in metallener, runter Form. In Münzen“, sie nickte, um ihre Klugheit zu untermauern. „Geld“, blökte ich und lachte auf. Kostenlos würde so etwas niemand machen. Obwohl… vielleicht gab es ja Menschen, für die dieser Auftritt die erste Treppenstufe auf dem Weg in die zehnte Etage und zur ganz großen Karriere war? Ich lachte erneut laut auf und erntete einen verwunderten Blick von meiner Schwester. „Ich geh jetzt und versuche zu schlafen“, meinte ich schließlich und richtete mich mühselig auf. „Ist gut. Schlaf schön, Rosi.“ Ein Kissen landete in Lilys Gesicht. Man konnte sie noch lachen hören, als ich bereits die Tür meines Zimmers geschlossen hatte. Missmutig huschte ich an dem kleinen vergilbten Spiegel in unserem Flur vorbei, vor dem jemand ein weißes, bauschiges Gewand hatte hängen lassen. Von weitem könnte man meinen, es hätte an der Taille einen leichten Blau- oder auch Rosastich, auch wenn es sich lediglich um ein Blumenmuster aus Pailletten handelte. Ein schlichter Schleier lag daneben auf der Kommode und mir schwindelte ein wenig, bei dem Gedanken, dass meine große, gerade mal zwanzigjährige Schwester in ein paar Wochen heiraten sollte. Man konnte nicht sagen, dass ich Ken nicht mochte – abgesehen von seinem Namen… Sobald man gezwungen ist, denke ich, seine Schwester jemand anderem zu überlassen, scheint man immer irgendwie wütend zu sein. Auf alles und jeden, ohne wirklich zu wissen, was man demjenigen in diesem Moment in die Schuhe schieben konnte. Und dann ist man schon wieder wütend, weil man nicht auf irgendwen wütend zu sein hatte. Man wird immer grimmiger, bis einem letztendlich der Schädel platzt. Verfluchter Teufelskreis. Wenn meine Schwester also verheiratet war, würde ich wieder zu meinen Pflegeeltern müssen. Susan und Stan; ich hatte sie noch nie Mom und Dad genannt; waren einfach die nettesten Menschen, die ich kannte. So unerträglich nett, als hätte man einen ganzen Eimer Zucker auf einmal verdrückt. Kurzum, sie bereiteten einem Magenschmerzen, bei ihrem ganzen Enthusiasmus und ihrer Fröhlichkeit, ihrem Verständnis, der Geduld und der Anhänglichkeit. Wahrscheinlich hatte ich deshalb immer ein wenig Distanz gewahrt, in den fünf Jahren, die ich bei ihnen gelebt hatte, damit ich halbwegs normal blieb. Oder zumindest, damit ich nicht so wurde wie sie, so wirklich normal war ich dann nämlich auch nicht. Dass ich bei Ken und Lily – wenn ich sie necken wollte, nannte ich sie Barbie – wohnen könnte, denn das hatten sie mir angeboten, war für mich von Anfang an keine Option gewesen. Ich allein mit einem Liebespaar, da würden wir irgendwann wie Süd- und Nordpol werden. Sie würden für immer und ewig in glückseliger Zweisamkeit verweilen, während ich zu einer depressiven, absolut unattraktiven, eifersüchtigen, alten Mrs. Doubtfire mutieren würde, die sich ihre Brötchen damit verdient, ihre eigenen Neffen und Nichten zu bändigen. Eine eigene Wohnung würde ich mir nie leisten können und Susan und Stan konnte ich auch nicht anbetteln – rein aus Stolz heraus. Was mir blieb war also, mich damit abzufinden, zu warten und mit ständigem Frohsinn auszukommen, bis ich studiert und einen Job bekommen hatte. Ein guter, solider Plan. Ich denke, ich sollte mir das mit dem Gameshow-Moderieren noch einmal überlegen. Ein bisschen Geld zu sparen würde mir eventuell ein Jahr eher aus diesem Pflegeelternhaus helfen. Oder zumindest ein halbes. Ich war so verzweifelt. „Hmm…“ Ich kratzte mich am Hinterkopf, kurz bevor ich den Flur betrat, und dachte einen Moment angestrengt nach. Früh morgens arbeitete mein Hirn noch nicht allzu gut... Bedeuteten die Stimmen jetzt, dass ich mein graues Schlabbernachthemd anbehalten konnte, oder sollte ich mich besser schnell ins Bad verziehen? Doch noch ehe ich eine Entscheidung treffen konnte, lugte ein Kopf durch die Tür und in den Flur hinein. Wir starrten uns eine Weile an, bis ich mich zu einem schiefen Grinsen zwang. „Hey, Susan.“ „Hey Süße!“, Der Stuhl quietsche, bevor ich die Chance hatte, mich zurückzuziehen. Susan nahm mich in den Arm und drückte mir einen feuchten Kuss auf die Wange. Um sie nicht zu enttäuschen, ließ ich in darauf trocken, anstatt ihn abzuwischen. „Ich hab Tee gemacht“, sagte sie und schob mich in die Küche. Zum Glück war außer Lily niemand anderes anwesend. „Kein Kaffee?“, murmelte ich verschlafen. Susan stockte einen Moment, „Mh, lecker Tee!“, meinte ich rasch und schwang mich auf den Platz neben meiner Schwester. Susan lächelte überglücklich und brachte mir eine Tasse, während ich mir schnell einen Pferdeschwanz band. „Zucker?“ „Unbedingt“, seufzte ich, was Susan zum Glück nicht zu hören schien. Sie summte irgendeine Melodie vor sich hin. „Das machst du gut“; flüsterte mir Lily unauffällig ins Ohr. „Jaah?“, raunte ich und blickte auf die aufgeschlagene Tagezeitung vor Lily, „Wohnungsanzeigen…“, sagte ich leise und spürte, wie meine Schwester begann mein Gesicht zu mustern. Sie schien immer noch zu denken, dass ich nicht gerne wieder zu Susan und Stan ziehen wollte. Ha! Wie recht sie doch hatte. „Ja, wir sind uns noch nicht ganz einig“, seufzte Lily. Jeder hätte wohl gesehen, dass sie hin und her gerissen war. „Also, ich finde ja diese hier klingt gut: ‚…nach Süden ausgerichtete Fenster, eine freundliche Nachbarschaft, ein Gästezimmer’“, las ich vor und versuchte nun selbst die Reaktion meiner Schwester abzuschätzen. Sie seufzte. „Da bist du mit Ken einer Meinung“, sagte sie und grinste mich schief an. „Ich meinte ja auch die hier!“, Lily begann laut zu lachen, „hier, die ganz andere, nicht die, die Ken wollte. Nein, nein, nein, ganz sicher nicht“, stimmte ich in ihr Lachen ein. Warum sollte ich Lily nur noch mehr verunsichern mit meiner schlechten Laune? Sie war glücklich und das war es, was wirklich zählte. Erst in diesem Augenblick realisierte ich, dass Susan uns kein einziges Mal unterbrochen hatte. Sie beobachtete und mit einem warmen Blick. Dieser Morgen schien doch besser anzufangen, als ich es mir gedacht hatte und vielleicht hatte ich mich zu sehr auf die schlechten Seiten konzentriert, die es mit sich bringen würde, bei meinen Pflegeeltern, oder vielmehr bei meinen Re-expflegeeltern zu leben. Meine Einstellung war hier der springende Punkt, was hieß, dass ich mich von nun an optimistischer geben musste. Ich musste optimistisch denken, fühlen, ich war der Optimismus! Das Leben war und würde schön werden, jawohl. „Wow…“, sagte ich perplex, „Mann, he – heute scheint wirklich ein guter Tag zu werden, ich…“ „Volle Punktzahl?“, brüllte Dawn, „hast du gemogelt?“, fragte sie prompt. Ich machte ein beleidigtes Gesicht und verneinte. Doch in Wahrheit fragte ich mich selbst, ob ich für den Chemietest gelernt oder gespickte hatte. Um das Thema abzuhaken, entschied ich mich für ersteres – vor allem, weil ich, wenn ich denn einmal spickte, komischer Weise stets eine schlechte Note bekam. Schicksal oder Karma nannte das Dawn dann immer und lachte. Ich betrachtete sie kurz, als sie meinen Test untersuchte und stellte mal wieder fest, dass ich mich fühlte wie der Mond. Sie war die Sonne. Wenn sie da war, war ich kaum zu erkennen, so hell strahlte sie und wenn sie einmal weg war, strahlte ich nicht einmal mit der halben Intensität von Dawn. Ihre rotbraunen Haaren vielen in kleinen Wellen bis zu ihrer Taille hinab und ihre Augen waren blauer, als man es sich vorstellen konnte. Das lustige daran war, dass so viele Jungs auf sie standen, sie aber bisher jedem einen Korb gegeben hatte. Sie war verflucht anspruchsvoll, aber kein bisschen arrogant oder eitel, nicht schüchtern aber auch nicht zu selbstbewusst. Ihr größtes Manko war, dass sie so schnell ausrastete. Die einzige, die sie in so einem Zustand dann beruhigen konnte, war ich – außer wir hatten uns gerade gestritten. Und jaah, ich war extrem stolz darauf, dass mich meine beste Freundin so brauchte. Wenn die eigenen Freunde einen nicht brauchten, nutzte man weder ihnen etwas noch umgekehrt, das hatte ich mittlerweile festgestellt. Ich brauchte Dawn zwar wesentlich häufiger als sie mich – sie half mir bei den Hausaufgaben, rettete mich vor diversen Peinlichkeiten, verteidigte mich, wenn andere mich verletzten wollten – aber diese Unausgeglichenheit machte uns beiden nichts aus. Manchmal fragte ich mich ernsthaft, womit ich diese Loyalität verdient hatte. „Du Schafshirn hast einhundert Punkte bekommen, ich fasse es nicht“, platzte sie plötzlich heraus und riss mich aus meinen Gedanken. Manchmal könnte ich sie erwürgen. „Nenn mich Feta-Meister“, meinte ich rasch und nahm vor meinem Pult platz. Der Unterricht hatte bereits begonnen… Und Dawn lachte vergnügt weiter, ohne sich darum zu scheren. Da spürte ich zum ersten Mal an diesem Tag, diesen elektrischen Impuls in mir. Ich blinzelte überrascht, als der Moment vorbei war und blickte mich unwillkürlich um. Es hatte sich angefühlt, als hätte mein Herz besonders viel Anlauf genommen, um das Blut dann zehnmal so schnell als üblich, durch meine Venen zu schießen. Ich konnte noch immer spüren, wie meine Zehen vibrierten und wie mein Kopf schwirrte, was mir allerdings immer passierte, wenn ich mich mit etwas Eigenartigem oder besonders Emotionalem befassen musste. Eine Hand berührte meine Schulter, was ich jedoch erst einen Moment später bemerkte. „Hey, Rose. Du siehst komisch aus“, sagte Dawn. „Uhm, nein, nein, ich hab nur kurz… über Lily nachgedacht und die Hochzeit“, antwortete ich rasch, um sie nicht zu beunruhigen. „Ach so. Du machst dir da zu viele Gedanken drüber, Rose. Es wird schon alles gut werden, mach deinen Kopf frei.“ „Ja.“ Dawn wusste ja gar nicht, wie schwierig das in der Praxis umzusetzen war. Meine Umgebung war noch immer etwas vernebelt, obwohl ich mich bereits damit abmühte, mich auf irgendetwas anderes zu konzentrieren, sei es der Unterricht. Normalerweise schwirrte es mir nie solange und normalerweise ging dieses Surren auch nie auf meinen Magen über… Wieso das heute der Fall war, war mir absolut schleierhaft. „Ich melde mich doch besser, mir ist nicht gut…“, flüsterte ich Dawn zu. „Wusste ich’s doch, so blass wirst du doch sonst auch nicht, wenn du an die Hochzeit denkst“, erwiderte sie und erklärte unserem Lehrer an meiner Stelle, dass mir nicht gut war. Er schickte uns zusammen ins Sekretariat, damit wir meinen Vormund benachrichtigen konnten. Ich erinnerte mich nicht, wann ich mich das letzte Mal von der Schule hatte abholen lassen, weil ich grundsätzlich nie krank wurde. „Dawn, ich geh besser einfach so nach Hause. Ich möchte mich nicht von Susan abholen lassen“, Susan begann mein Gesicht zu studieren, „ich hab doch nur ein bisschen Halsweh, kein Grund zur Sorge, ich kippe schon nicht um, geh wieder zurück, nicht, dass du noch etwas verpasst“, witzelte ich, um die Situation zu entschärfen. Tatsächlich gab Dawn ein kehliges Lachen von sich, was bedeutete, dass sie wohl einverstanden war, sich aber dennoch Sorgen machte. „Na gut“, seufzte sie, „aber wehe du kommst morgen nicht wieder!“ Ich nickte hastig und sah zu, wie sie sich wieder in unser Klassenzimmer begab. Da erwischte mich ein weiteres Mal dieser Impuls und das Adrenalin schoss in meine Zehen- und Fingerspitzen. Es war als, stand ich auf glühenden Kohlen; das einzige, was ich tun wollte, war wild umherzuhüpfen, solch einen Energiestoß hatte ich verpasst bekommen. Doch noch ehe ich einen Schritt machen konnte, setzte wieder dieses Schwindelgefühl ein. Mir schwirrte und surrte der Kopf, als hätte jemand das Radio auf eine Frequenz gestellt, auf der es keinen Sender gab. Es knirschte und raschelte. „Hui…“, seufzte ich und setzte mich möglichst vorsichtig in Bewegung. Die Wohnung von mir und meiner Schwester lag einige hundert Meter entfernt. Mit normalem Schritttempo erreichte ich sie immer in knapp einer viertel Stunde, doch ich befürchtete, dass es sich dieses Mal wohl in die Länge ziehen würde. Beinahe bei jedem Schritt den ich nun machte, sauste dieses Kribbeln durch meine Adern und jedes Mal folgte darauf dieses Schwirren. Es fühlte sich ähnlich an, als würde man mit jemandem über eine Sache unstimmig sein. „Nein“, „Doch“, „Nein!“, „Doch!“, Nein!!“, „Doch!!“, „NEIN“, „DOCH!“ Wie ein Pendel, das mit jedem Mal nicht schwächer, sondern stärker wird. Hin und her, hin und her. Allein schon dieser ständige Wechsel hätte mich schwindeln lassen. Ich krallte mich nach einiger Zeit an etwas festes, beinahe ohne, dass ich es selbst kontrolliert hatte. Ich spürte die raue Rinde eines Baumes an meiner Wange. Der Impuls und dieses Surren in meinem Kopf ließen nach, nachdem ich meine Augen für ein paar Minuten geschlossen gehalten hatte. Zaghaft öffnete ich diese und stellte fest, dass ich in den Park getaumelt war. „O“, stieß ich verblüfft aus und blickte an mir hinab, um zu prüfen, ob das wirklich noch ich war, der sich da gerade an diese Weide presste. Unmittelbar vor mir befand sich eine klare Pfütze. Ich betrachtete mein Gesicht eine Weile und stellte fest, dass ich immer noch in meinem eigenen Körper steckte. Meine blonden Haare waren noch nie so golden gewesen wie Lilys, sie waren ein wenig wie Silber, allerdings nicht ganz so hell, es steckte genau so viel blond in ihnen, um sie nicht stumpf wirken zu lassen. Auch meine grünen Augen hatte ich bisher noch bei niemand anderes entdeckt. Dawn hatte mal gesagt, dass sie immer, wenn sie meine Augen anschaute, an das Gefühl denken musste, in einen extrem sauren Apfel zu beißen. Beinahe verblüfft, dass sich nichts an mir verändert hatte, strich ich eine abstehende Strähne meines glatten Haares zurück, auch, wenn ich mir sicher war, dass sie nach einiger Zeit wieder in ihre ursprüngliche Form zurückspringen würde. Ich seufzte und stieß mich vom Baum ab. Mein Körper explodierte in diesem Moment förmlich. Ich presste die Hände auf meine Ohrmuscheln, als meine Umgebung hin und her schwankte wie auf einem Segelboot und ich gleichzeitig einen Einhundertmetersprint absolvieren musste . Ich spürte, wie ich zu zittern und vibrieren begann, als das Schwirren in meinem Kopf abklang, als hätte es den Drang gegen das Adrenalin verloren. Meine Gedanken wurden klar und ich versuchte eine Erklärung für das Ganze zu finden. Vielleicht hatte ich irgendeine Hormonstörung, oder die Synapsen meines Hirns hatten sich falsch verbunden. Ich schritt weiter und weiter, ohne wirklich zu wissen, warum ich lief und wohin ich ging, denn es war definitiv nicht der Weg nach Hause. Mein Herz begann zu flattern und meine Nerven waren zum bersten gespannt, als würde in der nächsten Ecke irgendetwas lauern, wofür ich besonders geschärfte Sinne benötigen würde. Dort mitten auf dem Pfad erblickte ich eine Lache. Aus was sie bestand, wagte ich nicht, mir auszumalen, dennoch machte ich einen Schritt darauf zu. Ich, oder vielmehr diese Angespanntheit in mir, schubste mich in die Richtung der merkwürdigen Flüssigkeit. In mir tickte eine Bombe und ich spürte, dass ich sie entschärfen konnte, würde ich herausfinden, um was es sich dabei handelte. Obwohl… eigentlich fühlte es sich mehr so ran, als müsse ich schlicht und einfach nur näher herangehen . Auf meine Gedanken folgten Taten, noch ehe ich beschlossen hatte, auf den Impuls in mir zu hören. Ich ging in die Hocke, um die rote Flüssigkeit zu inspizieren. An jedem anderen Tag wäre ich kreischend davon gerannt, sobald ich das Blut bemerkt hätte, doch ich war so fasziniert davon, dass ich ignorierte, wie sich meine Kehle zusammenzog. Die bis dato so ruhig gewesene Lache, begann plötzlich zu beben. Kleine Welle bildeten sich in ihrer Mitte, schienen aber zu träge, um es bis zu ihrem Rand durchzuhalten. Noch bevor ich wusste, was mit mir geschehen war, hatte mich etwas am Fußknöchel gepackt und weil ich mich hingehockt hatte, fiel ich nun unsanft auf meine vier Buchstaben. Ich neigte den Kopf nach vorne und spie einen lauten Schrei aus. Die Hand, die mich gepackt hatte, kam aus der blutigen Lache und zerrte mich nun hinein. Ich konnte es kaum fassen, als ich sah, wie mein erster Fuß in die Flüssigkeit eindrang. Ich schrie, weinte und schlug um mich, konnte mich aber weder befreien, noch Hilfe herbeirufen. Als ich unter dem Tränenschleier hervorblinzelte, steckte ich bereits bis zur Taille in Blut. Bisher hatte mich die Hand zerren müssen, doch mit einem Mal rutschte ich gänzlich in die Lache hinein und meine Sinne wurden ausgeblendet. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)