Das Portal von Rentalkid ================================================================================ Mutter ------ ] Kapitel 17 – Mutter Das Duell schien längst verloren, alle Hoffnung begraben. Die Müdigkeit obsiegte nach einer unerbittlichen Schlacht über den Kampfeswillen. Wie lange hielt sie nun schon aus? Einen Tag? Eine Woche? Ein Leben lang? Womöglich kam der Feind ihr deswegen so bekannt vor. In der Dunkelheit dieser unwirklichen Welt war es schwer, einen vielsagenden Blick auf den Kontrahenten zu erhaschen, und doch meinte das Mädchen, einen alten Bekannten wiedererkannt zu haben. Ein mächtiger Ritter in Schwarz; das Gesicht unter seinem Angst einflößenden Helm versteckt. Eva konnte ihre Abwehr nicht länger aufrechterhalten. Jeder Hieb, der auf ihr Schild prallte, schwächte sie mehr und mehr. Bald schon konnte sie kaum noch die Kraft aufbringen, ihre eigene Waffe zu erheben. Wurde sie jünger, jünger mit jedem Schlag? Was war es nur, was ihr Feind zu erreichen gedachte? Längst schon hätte er sie niederstrecken können; und just in dem Moment, in dem Eva über ihr scheinbar besiegeltes Schicksal nachzudenken begann, näherte sich der Ritter mit erhobener Klinge. Erst jetzt erkannte Eva die Kriegsrüstung ihrer Mutter, die ihr seit früher Kindheit Furcht einflößte. Doch schien niemand sie zu tragen. Da war nur die Rüstung, nur der dunkle Stahl. ... ... ... ... ... ... Ballybofey, Waldrand. Vier Jahre früher (Minewood-Zeit) Weder hätte sich Eva auf das einstellen können, was ihr bevorstand, noch in irgendeiner Form damit rechnen. Nachrichten wie diese konnte man letzten Endes nicht nach einem bestimmten Muster verarbeiten. Jeder Mensch – zu jeder Zeit – würde auf seine ganz eigene Weise damit umgehen müssen. Ein ungutes Gefühl hatte sie schon beschlichen, als Lester ganz allein das kleine Dorf am Rande des Elfenwaldes betrat. Eva konnte sich nicht daran erinnern, ihn jemals vor ihrer Mutter zurückkehren gesehen zu haben. Zwar hätte es viele Gründe dafür geben können, doch war es nicht Evas Art, sich Hoffnungen zu machen. So hatte sie schlussendlich alles geschehen, alles auf sich zu kommen lassen. Als der Riese Lester sich mit seelenlosem Blick genähert hatte und ungewohnt großen Abstand zu ihr hielt, konnte sie schon so gut wie sicher erahnen, was geschehen war. Daran glauben, wollte sie jedoch zumindest so lange nicht, bis Lester es ausgesprochen hatte. Das war schließlich seine Pflicht, und er sollte sie auch erfüllen. Er sah mitgenommen aus, traurig. Verletzt, war er nicht. „Eva ... deine Mutter ...“ Die Worte quälten sich aus der trockenen Kehle des Ritters. „Sag es schon, Onkel Lester!“ forderte das Mädchen zornig. Schockiert sah der alte Mann zu seinem geliebten Patenkind herab. Ahnte sie denn wirklich, was geschehen war? Er stützte sich auf seinem linken Knie ab, um der Kleinen in die Augen zu sehen, doch sie wich seinen Blicken aus. „Wir haben viele Stunden länger gewartet, als verabredet war, doch sie kamen beide nicht zurück.“ Evas Gesicht verzog sich zu einer wütenden Grimasse. Trauer konnte Lester zunächst nicht erkennen. Das Mädchen war eben viel zu gerissen, nicht sofort das Schlimmste vermutet zu haben, als er sich schleppend von der Küste zum Dorf bewegte; das musste nun auch der Hüne erkennen. „Also seid ihr einfach aufgebrochen?“, fragte Eva vorwurfsvoll. „Nein!“ Lester versuchte gestenreich zu erklären, was wirklich vorgefallen war. „Wir schickten Loren zur Aufklärung in die Festung. Als er zurückkam, konnte er uns leider nur versichern, was wir alle befürchteten: Daimia und deine Mutter ... sie beide haben es nicht geschafft ...“ „Verstehe ...“ Noch immer verschwendete Eva keinen Blick an Lester. Schwer atmend, voller Wut im Bauch – Wut auch auf ihren Gönner Lester – starrte sie Löcher in den Erdboden. „Es tut mir so leid, Eva. Das hätte niemals passieren dürfen. Wir hätten sie niemals ...“ „Es ist aber trotzdem geschehen“ fiel das junge Mädchen ihrem Gegenüber emotionslos ins Wort. „Wo sind die anderen?“ „Wen ... wen meinst du?“ „Die anderen vier. Leben sie noch?“ Ob es wirkliches Interesse am Schicksal der Kameraden war, oder nur ein Versuch, sich in jener schweren Stunde irgendwie von dem eigentlichen Desaster abzulenken, konnte Lester nur erahnen. Er antwortete ehrlich: „Loren wurde entdeckt, er schaffte es nur schwer verletzt zurück zum Schiff. Er starb in meinen Armen ...“ „Hmpf ...“ Eva wendete sich der kleinen Hütte zu, die sie und ihre Mutter bewohnten, wann immer sie in Ballybofey waren. „Ihr hättet sofort umkehren sollen!“ warf sie dem trauernden Krieger vor. Es waren die letzten Worte, die sie an jenem frühen Morgen an ihn richten sollte. Sie machte kehrt; wollte allein sein. Lester folgte ihr nicht ins Haus, auch wenn er das Verlangen danach hatte. ... ... ... ... ... ... Evas Sicht war verzerrt und verblichen. Ihre Augen reagierten hochempfindlich auf das Kerzenlicht, doch ebbte die unangenehme Wahrnehmungsstörung mit jedem Blinzeln ein bisschen ab. Sie gewöhnte sich schnell an die Eindrücke um sie herum, konnte die merkwürdige Umgebung aber zunächst nicht einordnen. Alles kam ihr fremd vor. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Als sie sich aufrichten wollte und dabei mit der linken Hand einer ihr wiederum durchaus bekannten Person unabsichtlich einen Schlag verpasste, schwenkte ihr Blick auf das trotz allem tief und fest schlafende Opfer ihrer Attacke. Ganz in ihrer Nähe entdeckte sie Peter. Im ersten Moment rührte sie der Anblick des Jungen, den Kopf in den verschränkten Armen vergraben. Sekunden später ertappte sie sich dabei, ihm liebevoll über die Wange streichen zu wollen, gerade noch rechtzeitig, um jene unangebrachte Zärtlichkeit zu verhindern. Sie kannte ihn doch kaum ... Es verging aber kaum Zeit, bis sie über die eigenen, übertriebenen Bedenken schmunzeln konnte. Ob sie ihn mit einer sanften Berührung wohl aufgeweckt hätte? Ein plumper Schlag hatte jedenfalls nicht ausgereicht. Nun ließ Eva ihren Blick in der Krypta kreisen. Sie beobachtete ihre schlafenden Kameraden und schielte neugierig in jede noch so versteckt gelegene Ecke. Es tat gut zu sehen, dass ihre Freunde wohlauf waren: Lester, der ab und an ein basslastiges Schnarchen von sich gab; Lily und Jin, die dicht beieinander ganz ihren Träumen ergeben waren; Viola, die Eva im Schatten eines Torbogens ausmachte; Aarve, der ihr gegenüber einen Platz zum Ruhen gefunden hatte; und natürlich Peter, dem das Privileg zuteil wurde, als allererstes von Eva in Augenschein genommen worden zu sein, wenngleich die Führerin der kleinen Gruppe jenen Zufall als ein solches niemals angesehen hätte. „Also habt ihr die bösen Träume doch noch besiegt.“ Überrascht neigte Eva den Kopf in Richtung des Korridors, aus dem die mysteriöse Stimme an ihr Ohr gedrungen war. Bald schon schritt ein großer, schlanker Dunkelelf in schwarzer Robe aus dem Dunkel. Hatte er bloß gut geraten, oder wusste er wirklich über ihre Träume Bescheid? „Wer seid ihr?“ „Mein Name ist Prior“, antwortete der Elf, ohne dabei eine Miene zu verziehen. „Ich war in den vergangenen Stunden damit beauftragt, ihre Wunden zu behandeln.“ „Dann gilt ihnen mein Dank, Prior.“ Sie log nicht, was das anging, hatte jedoch Schwierigkeiten, dem ihr völlig fremden Dunkelelf zu vertrauen. „Sie schmeicheln mir vielleicht zu unrecht“, erzählte er und schwieg dann einen Augenblick, so als würde er Eva zum Nachdenken anregen wollen. „Meine Fertigkeiten als Heiler und alle Mittel, die mir zur Verfügung stehen, reichen natürlich nur in fassbare Weiten.“ „Das heißt?“ Prior lächelte und sagte: „Um eine so schwere Schlacht zu überstehen, bedarf es eines unbändigen Willens. Der wahre Dank gilt ihrer Seele und natürlich ihren Kameraden, die ihnen die ganze Zeit über auf dem Schlachtfeld Beistand geleistet haben. Sie wollten zu keiner Zeit von ihrer Seite weichen.“ Priors Worte rührten Eva zutiefst. Es war schön, all das zu hören. Wunderschön. „Ich würde sie lieber schlafen lassen“, erklärte Eva flüsternd. „Sie haben sich die Ruhe mehr als verdient.“ „Oh, sie werden noch eine Weile schlafen, keine Sorge“, versicherte ihr der Heiler, ohne dabei in irgendeiner Form auf seine Lautstärke zu achten. Er wusste sehr gut, dass diese Ruhe in vielerlei Hinsicht verordnet war. „Wo sind wir hier eigentlich?“ fragte Eva unsicher, aber schon lächelnd. „Ich bin mir sicher, dass ihnen sehr viele Fragen auf dem Herzen liegen. Ich denke, es ist nun an der Zeit, dass sie unsere Anführerin kennenlernen. Miraaj wird ihnen all ihre Fragen weit besser beantworten können, als ich.“ „Miraaj?“ hauchte Eva ungläubig. „Ja. Fühlen sie sich dazu in der Lage, sie in meiner Begleitung aufzusuchen?“ fragte Prior zuvorkommend. „Es ist schon ein kleiner Weg, bis zu ihren Gemächern.“ Zum ersten Mal, seitdem sie aufgewacht war, tastete Eva ihren Körper nach Wunden ab, von denen sie sicher war, sie im Kampf erlitten gehabt zu haben. Sie fühlte nichts. Da war kein Schmerz mehr; auch Narben konnte sie keine ausmachen, zumindest nicht auf den ersten, flüchtigen Blick im Kerzenschein. Ungläubig wandte sie sich dem Dunkelelf zu. Sie war gewillt, ihrem Retter zu vertrauen und antwortete schließlich: „J-ja, das schaffe ich.“ ___________________________________________________________ „Ich kann nicht glauben, dass ihr das getan habt!“ Neil spuckte Feuer in Richtung der erschöpften Dunkelelfe, die alle Mühe hatte, sich überhaupt auf den Beinen zu halten. „Welchen Zweck habt ihr dabei verfolgt?“ „Ich ...“ Ein schwerer Hustenanfall unterbrach das heisere Stimmchen. Miraaj klammerte sich am Rande eines ihrer Bücherregale fest, um nicht zusammenzubrechen. Sie zitterte wie Espenlaub. „Mir ist gerade wirklich nicht nach streiten, alter Freund ...“ In ihrem stark geschwächten Zustand war die sonst so faszinierend anmutende Magierin nur ein Schatten ihrer selbst. Neil sorgte sich um sie – das tat er wirklich-, nur überwog sein Unverständnis über ihre Taten, die sie letzten Endes erst in diese prekäre Situation brachten. Miraaj war selbst Schuld an ihrem Leiden. Sie hatte dieses Opfer willentlich gebracht. Gedankenlos, wie Neil meinte. „Damit könnte alles aus den Fugen geraten“, schob Neil einmal mehr die große Sache vor, wenngleich ihm trivialere Dinge zurzeit mehr Kopfzerbrechen bereiteten. Miraaj, die mittlerweile auf ihrem Bett Platz genommen hatte und sich in einige weiche Kissen lehnte, neigte ihren Kopf lächelnd in Richtung des kleinen Mannes. Seine Besorgnis war ihr nicht entgangen. „Noch lebe ich, Neil.“ „Ja, ja ... noch“, murmelte er in seinen feuerroten Bart. „Denkst du wirklich, ich würde euch hier alleine zurücklassen.“ Ab und an konnte sie ein Husten nicht unterdrücken, doch besserte sich ihr Zustand von Minute zu Minute. „Ich treffe meine Entscheidungen niemals leichtfertig.“ „Das dachte ich auch immer“, entgegnete Neil seiner Anführerin zynisch. „Wenn es der Junge gewesen wäre – nun gut-, aber das Überleben dieses Mädchens bringt uns nicht weiter voran. Ihr habt so viel Kraft aufgebracht, um sie zu retten. Wieso das alles?“ „Oh Neil ...“ Die mächtige Dunkelelfe richtete ihren Blick gen Decke. Es schien, als könne sie in der Ferne Dinge sehen, die sich ihrem alten Freund verschlossen. „Du musst noch an deiner Menschlichkeit arbeiten!“ „Hmpf ...“ Neil rümpfte die Nase. „Ich dachte immer, die Angewohnheit der Menschen Entscheidungen von ihren Emotionen abhängig zu machen, wäre ihre größte Schwäche!?“ „Und doch tun sie genau das mit Vorliebe.“ „Ihr seid aber kein Mensch!“ schnaubte Neil nach diesen Sentimentalitäten der Frau, der er nach wie vor Naivität vorwarf. „Peter ist einer“, antwortete Miraaj knapp. „Durch und durch.“ Gerissen, wie er war, verstand Neil schnell, worauf sie damit hinaus wollte. Wer weiß, ob es reine Spekulationen waren, der sich die Dunkelelfe dabei hingab. Es machte so oder so wenig Sinn, weiter mit ihr zu diskutieren. Ihre Entscheidung hatte sie längst getroffen gehabt und schließlich auch Taten folgen lassen. Wenn sie nun meinte, es für den Jungen getan zu haben, schön und gut. „Sie wird wohl schon auf dem Weg hier her sein, oder?“ vermutete Neil völlig richtig. „Wahrscheinlich.“ „Und was von alledem gedenkt ihr, dem Mädchen anzuvertrauen?“ „So viel wie nötig, Neil, so viel wie nötig ...“ ___________________________________________________________ Mühselig begannen die Lider der jungen Elfe sich nach langer und erholsamer Ruhepause zu öffnen. Geräusche, die sich in ihrem Unterbewusstsein schon Minuten lang mit den Traumwelten des Halbschlafs vermischt hatten, drangen nun immer differenzierter zu ihr hindurch. Das rege Treiben in der Krypta verriet die fortgeschrittene Tageszeit. Als ihr Blick klarer wurde, sah Lily eine ganze Schar eifriger Zweibeiner – bekannte und unbekannte – Arbeiten verrichten. Lester hatte seine Plattenrüstung abgelegt und war damit beschäftigt, schweres Gepäck in den Raum zu tragen. Auch Viola und Aarve widmeten sich mehr oder minder schweißtreibenden Beschäftigungen, warum auch immer. „Schaut mal, wer wieder unter den Lebenden weill!“, bemerkte der über das ganze Gesicht strahlende Lester als erster das Erwachen der Waldelfe. „Ausgeschlafen?“, konnte sich Viola im Vorbeigehen eine Spitze nicht verkneifen. Die Laune Lilys drohte, einen neuerlichen Tiefpunkt zu erreichen, da es scheinbar niemand für nötig gehalten hatte, sie aufzuwecken. Wenngleich sie wohl die Jüngste in der Gruppe war, hasste sie es, sich ständig wie ein Kind bevormundet zu fühlen. Sogar Jin war schon wieder auf den Beinen, seit geraumer Zeit, wie es schien. Den vorwurfsvollen Blick seiner Artgenossin konterte er zu deren Verwunderung mit Schamesröte. Nach diesem merkwürdigen Zusammenstoß fiel Lilys Aufmerksamkeit eher zufällig auf den steinernen, rundlichen Altar, der mittlerweile völlig verwaist war. In all dem Trouble um sie herum, hatte sie Eva zunächst völlig ausgeblendet. Auch die anderen schienen sich keinerlei Gedanken mehr um ihre Anführerin zu machen. Obwohl abwegig, vermutete Lily umgehend das Schlimmste. „Onkel Lester, wo ist ...“, wandte sie sich fragend an ihren Bekannten. „Eva geht es gut, Kleines. Brauchst dir um sie keine Sorgen zu machen“, beruhigte der Riese die Waldelfe. „Das haben wir unserem Wunderheiler zu verdanken“, fügte er hinzu und neigte dabei den Kopf in Priors Richtung. Der Dunkelelf wies die Lobpreisungen von sich: „Wunder liegen weit außerhalb meiner Fähigkeiten. Ist der Lebenswille stark, vermag er Berge zu versetzen.“ Ja: Stark war Eva; stärker sogar, als Lily es je gedacht hätte. Doch würde die Elfe einiges darum geben, dies nie aus nächster Nähe erfahren haben zu müssen. Hätte sie die Entscheidungen treffen können, die Eva in der Stadt hatte treffen müssen? Sie war schon so viel reifer, so viel erfahrener als Lily. „U-und Peter?“, fragte sie verunsichert. Er war nirgends zu sehen. Gedanken an den Schock, den sie erlitten hatte, als Peter ihr – zum Glück als erste – den Namen des Einhorns anvertraute, kamen auf. Sie fragte sich, was noch alles geschehen war, seit sie das Bewusstsein verlor; der Laune ihrer Gefährten nach zu urteilen, wohl nichts Schlimmeres. „Der lenkt sich draußen ab“, tönte Aarve gewohnt unfreundlich, aber doch hilfreicher, als Lily es von dem jungen Mann erwartet hätte. „Wo?“, wandte sie sich heiser an einen weiteren Dunkelelf, der sich ganz in ihrer Nähe aufhielt, in der Hoffnung, er könne ihr den Weg weisen. „Er ist zu den Ställen gegangen. Wollte nach dem Einhorn sehen“, erklärte der Fremde mit tiefer Stimme. „Du folgst dem Tunnel an die Oberfläche, kann man nicht verfehlen.“ „Pass aber auf!“, mahnte ausgerechnet Viola die Waldelfe. „Ballymena liegt unweit von hier ...“ „Als ob ich jemals wieder dorthin zurückkehren würde!“, fauchte Lily, bevor sie sich mit raschem Flügelschlag auf den Weg machte. „Ich spüre diese seltsamen Schwingungen zwischen euch beiden“, witzelte Aarve, der sich seine Schlagfertigkeit in Violas Beisein nicht mehr verkniff. Die Kriegerin, die ihren Lederanzug ob des feuchtwarmen Klimas in der Krypta abgelegt und nun mehr oder minder in Unterwäsche ihre Ausrüstung pflegte, konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Kennst du dich mit Messern aus?“, fragte sie den Blondschopf. „Nun ja“, zögerte er. „Sie sind scharf und spitz und ...“ „Traust du dir zu, diesen Dolch hier zu reinigen und zu schleifen?“, wurden seine neunmalklugen Bemerkungen unterbrochen. Viola kniete über ihrer Rüstung und zog eine der tödlichen Waffen aus ihrem Gürtel. Der Dolch war fast vollständig von geronnenem Blut überzogen. Unbeeindruckt davon, begann die Assassine einige Brocken abzuschaben, mit mäßigem Erfolg. „Ist ganz schön hartnäckig.“ „Das ist ganz schön eklig!“ „Macht dir das etwa was aus?“, fragte Viola ungläubig. In ihrer Stimme wog eine gewisse Nuance von Enttäuschung mit. „Das ist mein Favorit, weißt du?“ „Wäre ich nie drauf gekommen“, gab sich Aarve zynisch. „Und was ist für mich drin, wenn ich diese Sauerei beseitige?“ Viola überreichte dem Finnen die Waffe mitsamt einiger anderer Utensilien, ein weiteres Mal lächelte sie, wissend, wie es auf den schroffen Blondschopf wirkte. „Du kannst dich aus deiner Häftlings-Kutte schälen,“ Aarves Augen drohten einen Moment lang aus den Höhlen zu fallen, „und die hier anziehen.“ Als Viola ihm die frische Kleidung zuwarf, musst er sich auf die Lippen beißen, um sich nicht selbst lauthals auszulachen. „Was? Was hast du?“ „Nichts! Ist schon gut“, versicherte der Finne. „Keine Sorge, das sind nicht meine. Die gehörten einem von Evas Burschen ... werden schon irgendwie passen.“ „Tja, dann ... danke.“ „Nicht vergessen: Die bekomme ich zurück, wenn du den Dolch nicht blitzsauber kriegst! Und beschädige den Griff nicht!“ „Ist angekommen.“ ___________________________________________________________ Die Katakomben waren kaum ausgeleuchtet, zumindest galt das für den Bereich, den Lily zu jener mittäglichen Stunde beschritt. In den engen Korridoren, die, laut Angaben des ein wenig langsam wirkenden Dunkelelfs von vorher, an die Oberfläche führen sollten, war der kessen Waldelfe schon sehr früh die Lust am Fliegen vergangen. Ein brummender Schädel erinnerte sie fortwährend an ihre unsanfte Begegnung mit der steinernen Decke. Ihre Laune hatte dieses Erlebnis natürlich nicht gebessert; und doch gab es Grund für sie, zumindest wieder etwas zufriedener dreinzuschauen, hatte sie doch vor kurzem in nicht allzu großer Entfernung eindringendes Tageslicht ausgemacht. Sicher würde es in Peters Nähe für sie angenehmer sein, als bei den anderen. Gewissermaßen, wusste sie seine ruhige, eher schüchterne Art doch zu schätzen. Er war eben genau der richtige Partner, wenn man zwar allein sein wollte, sich jedoch vor der Einsamkeit fürchtete. Sie war schlussendlich nur auf der Suche nach Ablenkung. Als Lily nur noch wenige Schritte von der Oberfläche entfernt war, vernahm sie höchst suspekte Laute. Zwei flüsternde Stimmen – eine männlich, die andere weiblich-, die sie niemandem mit Sicherheit zuordnen konnte; wenn sie auch sofort vermutete, dass der männliche Part dieses Streitgesprächs Peter inne war. Doch mit wem diskutierte er dort oben? Lily entschloss sich, ihrer Neugier Dienerin zu sein und bewegte sich auf leisen Sohlen, stets in Schatten gehüllt, bis zum Treppenabsatz, der an die Oberfläche führte. Vorsichtig lugte sie über die letzten Stufen hinaus, um einen Blick auf die Geschehnisse zu erhaschen. Sehr schnell fixierten ihre Augen Peter, der nur wenige Meter von seinem Lebensretter Momo entfernt stand. Das Antlitz des Einhorns, das von seiner Magie augenscheinlich rein gar nichts eingebüßt zu haben schien, wusste Lily ein weiteres Mal zu verzaubern, so sehr, dass sie beinahe vergaß, weswegen sie überhaupt hier war. Ein Geistesblitz ließ die Elfe jedoch wieder zu Sinnen kommen. Dann, als sie erneut das Wort ergriff, verriet auch das fremde Mädchen ihren Standort. „Ich hab schon mal eines gesehen, weißt du?“ Sie streichelte Momo über Wange und Hals, stand jedoch hinter dem Hengst, sodass Lily kaum mehr als die Hand der mysteriösen Fremden erkennen konnte. Erstaunt war sie von Peters Reaktion. Er wirkte verschüchtert „Wirklich? Und wo?“ „Er hatte eines“, erzählte das Mädchen, während sie sich auf Peter zu bewegte. Jetzt konnte endlich auch Lily der Stimme ein Bild zuordnen. Sie sah Alicia allerdings zum ersten Mal. „Wo hast du es her?“ Die Trostlosigkeit in der hellen Stimme des brünetten Mädchens hatte etwas Künstliches; als würde sie selbst von oben auf sich herab sehen und ihrem alter Ego dabei jedwede Emotion verbieten. „Ich ... Wir haben ihn vor ein paar Tagen eingefangen.“ „Tatsächlich? Dann bist du jetzt wohl auch ein Held.“ „Ich ...“ Peter hatte ganz offensichtlich schwer mit sich zu kämpfen, überhaupt ein Wort über die Lippen zu bringen. Auch brachte er es nicht fertig, Alicia in die Augen zu sehen. „Ich hab nicht wirklich viel dazu beigetragen.“ „Hast andere die Arbeit machen lassen, huh?“ „W-was willst du damit sagen?“ „Nichts!“ Lily spürte, wie Alicia immer zorniger wurde. „Das liegt wohl einfach in deiner Natur, große Töne zu spucken, um dich dann heimlich aus der Affäre zu ziehen“, sagte sie wieder völlig emotionslos. „Alicia ...“ „Das hast du nicht vergessen, oder? Was du mir versprochen hast?“ „Es tut mir leid, aber ...“ „Aber?“, entfuhr es dem jungen Mädchen schrill. Ihre Fassade begann zu bröckeln, wenn auch zunächst nur für den Bruchteil einer Sekunde. „Ich konnte doch gar nichts tun! Ich wurde am nächsten Morgen von einem Steinschlag geweckt. In der Festung herrschte auf einmal reines Chaos! Krieg! Und du warst nirgends zu finden. Ich dachte du wärst bei dem Angriff ums Leben gekommen“, erklärte Peter offen und ehrlich. „Na dann musst du dich ja richtig freuen, mich hier zu sehen. So lebendig.“ „Ja, das tue ich. Das tue ich wirklich.“ Eine Weile lang sagten beide gar nichts mehr; gaben keinen Laut von sich. Lilys Herz raste. Sie hatte Angst, entdeckt zu werden und tobte innerlich vor Wut, die sich gegen die arrogante, unfreundliche Göre richtete, von der sie rein gar nichts wusste. „Was hast du in jener Nacht geträumt, Peter?“ „Wie bitte?“, fragte der Franzose verwirrt. „Bist du auf einmal taub? Was du geträumt hast, will ich wissen! Oder erinnerst du dich nicht mehr?“ Peter versuchte sich zu erinnern – krampfhaft sogar-, doch ohne Erfolg. Er wusste nicht, was das zur Sache tun sollte. „Kann mich nicht mehr erinnern“, gab er schließlich demütig zu. „Wie schade. Ich erinnere mich allerdings noch sehr gut, wovon ich geträumt habe“, sagte Alicia und begann zu erzählen: „Bevor ich in dieser Nacht mit dir gesprochen hatte, bekam ich kein Auge zu, so viel Angst hatte ich. Als du mir dann aber all diese netten Märchen erzählt und mir all diese Versprechungen gemacht hast, da ging es plötzlich. Ja, ich hab dir das tatsächlich alles abgekauft.“ „Aber nichts davon war gelogen!“, setzte sich Peter ein erstes Mal wirklich zur Wehr. „Stimmt ja: Du konntest nichts tun“, rezitierte Alicia Peters Argumente. „Es gibt keinen Unterschied zwischen leeren Versprechungen und Lügen! Wir stehen das zusammen durch!?“, erinnerte sich Alicia hysterisch lachend an die vergangenen Bemerkungen des Jungen, nur um sich kurz darauf wieder in ihr monotones, kaltes Abbild zu verwandeln. „Kennst du das Gefühl, wenn dir ein Traum realer scheint, als die echte Welt?“ Vielleicht ja, vielleicht nein. Peter hielt es für unangebracht und zwecklos, zu antworten. „Du träumst von der Heimat und wachst dann in einer kalten Zelle auf; und das erste, was du siehst, ist ein verdammter Elf!“ Langsam dämmerte Peter, warum Alicia den Einschlag der Geschosse wirklich überlebt hatte: Sie war gar nicht mehr im Turm eingekerkert, als in Vyers der Kampf losbrach. Sie hatte ihre eigene Hölle anderorts durchleben müssen; ganz allein. „Deswegen wollte ich wissen, wovon du in jener Nacht geträumt hast. Es muss ein wirklich schöner Traum gewesen sein, so fest, wie du geschlafen hast. Ja, ich hab dich gesehen. Er meinte, mir das zeigen zu müssen, bevor er mich ...“ Peter war völlig sprachlos. Er war schließlich nicht dumm und konnte sich zusammenreimen. Selbstverständlich ahnte er längst, worauf die Geschichte Alicias hinauslaufen würde. Wahrhaben, wollte er es jedoch nicht. In dem Jungen wuchs erneut der Zorn auf die Dunkelelfen in Vyers, auf Gardif, Uriah und wie sie sich auch immer schimpfen mochten. Wie konnten sie nur derartig mit einem hilflosen Mädchen umspringen? Kannten sie denn gar keine Skrupel? Wie muss sie sich gefühlt haben? Nein, das wollte er nicht wissen, auch wenn er meinte, jedes weitere schmerzliche Detail verdient zu haben. „E-es tut mir leid, Ally.“ Es gab einfach keine besseren, passenderen Worte für das, was Peter empfand. „Natürlich tut es das! Allen tut es leid!“, fauchte Alicia. Sie schien kurz davor, überzuschnappen. Auch wenn Lily alles mit angehört hatte, war sie noch immer bereit, für Peter in die Bresche zu springen, sollte das temperamentvolle Mädchen die Kontrolle verlieren. „Was nützt mir euer widerliches Mitleid? Du hast überhaupt nichts zu fühlen!“ Schritt für Schritt näherte sich das tobende Mädchen dem Menschen, dem in diesem Augenblick all ihre Verachtung galt. „Ally, bitte vergib mir“, flehte Peter noch heiser, doch prallten seine Worte regelrecht von ihr ab. „Dir vergeben? Womit hast du meine Vergebung verdient?“, schrie Alicia hysterisch. „Du bist nicht für jemand anderen hier!“ Sie hämmerte mit ihrer rechten Faust gegen die Brust des Jungen, der erschrocken einen Schritt zurückwich. „Dich haben sie nicht in der Nacht geholt!“ Erneut traf ihn ein Schlag auf die Brust, wenn auch schwächer. „Sie haben dich nicht in einen stinkenden Schuppen gesperrt!“ Nun griff Alicia Peter mit ausgestreckten Armen am Kragen und blickte ihm tief in die Augen. „Du wurdest nicht von ihnen misshandelt wie ich. Dich haben sie nicht berührt wie mich ... dich nicht ...“ Peter hatte mit ansehen müssen, wie ein gebrechlicher, alter Mann vor seinen Augen hingerichtet wurde. Er hatte in Vyers einen barbarischen Kampf kriegerischen Ausmaßes aus nächster Nähe miterlebt und gesehen, wie Freunde sich im Blutrausch gegenseitig meuchelten. Doch nichts von alledem war so schrecklich und markerschütternd, wie der Ausdruck im Gesicht dieses vierzehnjährigen Mädchens, als sie ihm ihr Schicksal offenbarte – nichts davon. Wer weiß, wie dieser Zusammenstoß der beiden ehemaligen Leidensgenossen aus der Festung geendet wäre, hätte Lily sich nicht dummerweise noch dazu entschlossen, einzugreifen. Obwohl sie Alicias letzte Worte sehr wohl vernommen hatte, beschloss sie, Peter zur Seite zu stehen. Sie stieß das Mädchen, dem sie zur Abwechslung körperlich gewachsen war, weg von dem Jungen. Die Attacke traf Alicia völlig unvorbereitet. Sie ging unsanft zu Boden, fasste die Angreiferin jedoch nur für einen kurzen Moment in die Augen. Dann versagte ihr Zorn, und so unterwarf sich auch diese letzte Bastion ihrer mit Mühe aufrecht erhaltenen Fassade vollends dem Schmerz, den Ally so sehr fürchtete. Wie ein Häufchen elend lag sie auf dem Acker, unfähig sich zu bewegen oder noch ein einziges Wort über die Lippen zu bringen. „Lily!“, fuhr Peter die Elfe wutentbrannt an. „Was soll das?“ Verunsichert suchte sie nach einer passenden Antwort. Ihr Blick schwenkte dabei von einem Menschen zum anderen. Sie bereute längst, das brünette Mädchen so angegangen, sie zusätzlich gedemütigt zu haben, aber dass sie für Peter Partei ergriffen hatte, keineswegs. „So darf sie nicht mit dir reden“, erklärte Lily. „Du hast nichts getan!“ „Lily ...“ Unter normalen Umständen hätte sich Peter ob jener Worte wohl gerührt gezeigt; jedoch sah er sich tatsächlich mitverantwortlich für Alicias Schicksal. „Das ist ja das Problem. Nichts habe ich getan, gar nichts!“ „Das konntest du auch nicht! Du warst genauso Gefangener der Dunkelelfen; wären die Dinge anders gelaufen, wärst du vielleicht gar nicht mehr am Leben“, versuchte Lily, Peter weiter gut zuzusprechen „Sie konnte schließlich auch fliehen. Wenigstens lebt sie noch!“ „Wenigstens das, ja?“, flüsterte Alicia weinerlich, die jedes Wort der Elfe in sich aufgesogen hatte. „Was für ein Glück!“ „Ally, dir wird nie wieder etwas geschehen“, sprach Peter mit neuem Mut in der Stimme. „Das verspreche ...“ „Wage es ja nicht!“ Mit diesen Worten richtete sich die junge Amerikanerin langsam wieder auf. „Wage es nicht, mir noch einmal Versprechungen zu machen!“ Langsam schritt Alicia an den beiden vorbei. Ihr Gesicht lag zum größten Teil unter ihren Haaren verborgen. Peter konnte nicht recht erkennen, ob sie ihn ansah und brachte selbst nur deswegen überhaupt den Mut auf, es zu tun. „Ich wünschte, eure Leute hätten die Stadt in der Nacht angegriffen, während ich schlief. Ich wünschte, ich wäre nie aus meinem Traum erwacht.“ „Alicia ...“ „Sei still!“, fuhr sie dem Franzosen erneut in die Parade, der ein letztes Mal versuchte, zu ihr durchzudringen. „Und bleibt mir vom Leib! Alle beide!“ Die Silhouette des Mädchens verschwand langsam im Schatten des Tunnels, der in die tiefen unterirdischen Gewölbe des Stadtrands führte. Weder Lily noch Peter brachten den Mut auf, ihr zu folgen, und so erfüllten sie Alicia letzten Endes ihren Wunsch. „Sie wird das durchstehen, Peter“, versuchte Lily ihren Freund aufzumuntern, auch wenn sie selbst Schwierigkeiten hatte, daran zu glauben. „Sie ist vierzehn Jahre alt, Lily. Vierzehn! Wie könnte sie das durchstehen?“ „Ich weiß es nicht“, gab die Waldelfe zu. „Aber sie ist ja nicht allein. Die Leute hier unten werden ihr doch beistehen, oder etwa nicht?“ Sie würden es versuchen, so viel war sicher. Miraaj schätzte Peter zudem als genau die richtige Person ein, zu Alicia durchzudringen. Aber was, wenn es ihr nicht gelingen würde? Was, wenn sie sich etwas antun würde? Das würde er sich niemals verzeihen. Peter ging in die Hocke, die Hände zu Fäusten geballt, den Blick gen Boden gerichtet. „Ich kann das nicht“, offenbarte Peter. „Wovon sprichst du? Du hast dir nichts zu Schulden kommen lassen“, wollte Lily ihn ein Mal mehr ermutigen. „Ich fühl mich aber trotzdem verantwortlich.“ „Weil du naiv bist!“ So etwas ausgerechnet aus ihrem Munde zu hören. „Du verschließt die Augen vor dem Schlechten um dich herum, einzig das Schlechte in dir, willst du sehen. Du hast nichts mit den Greueltaten zu tun, die an diesem Mädchen begangen worden sind.“ Wie weise Lily sein konnte, wenn sie nur wollte. „Sie beschuldigt dich nur, weil du für sie eine schmerzliche Erinnerung an diesen Alptraum bist.“ „Selbst wenn! Es reicht ja schon aus. Ich kann an nichts anderes mehr denken, keinen klaren Gedanken fassen“, erklärte Peter. „Und wer kann schon voraussehen, was uns noch bevorsteht?“ „Wann bist du so ein Feigling geworden?“, zeigte sich Lily enttäuscht von Peters Selbstzweifeln. „Nenn es ruhig Feigheit, wenn du willst, aber stell dir selbst mal die Frage: Würdest du ein zweites Ballymena durchstehen können?“ Als er die Leere in den Augen der kleinen Elfe erkannte, verachtete sich Peter dafür, sie an das Massaker erinnert zu haben. Dabei wusste er gar nicht einzuschätzen, wie sehr Lily mit sich zu kämpfen hatte, um die Bilder jenes Blutbades zu verdrängen. Viele ihrer wohltuenden Worte waren einzig diesem Unterfangen zu verdanken gewesen. „Ich ...“ Lily atmete schwer. „Ich weiß nicht, ob ich überhaupt eines durchstehen kann“, gab sie offen zu. „Wenn meine Freunde mir helfen, vielleicht“, fügte sie leise flüsternd hinzu. Peter verstand ihr Anliegen. Vielleicht war er selbst noch nicht dazu in der Lage, just erlebtes zu verarbeiten, aber zumindest war er nicht allein. Lily würde ihm mit Sicherheit beistehen – das wusste er jetzt. Von Eva hoffte er es. Jin, Lester – sie schienen ebenso hilfsbereit wie aufrichtig. Es war das erste Mal, das Peter so tiefgründig über seine neuen Gefährten nachdachte. Auch wenn er noch nicht lange bei ihnen war, kam es ihm vor, als kenne er sie schon seit einer halben Ewigkeit, mochten die Gründe für diese intensive Wahrnehmung auch noch so tragisch sein. Lily eilte plötzlich zum Gepäck der Gruppe, das aufeinander gestapelt im Schatten eines massiven Baumes lag. Sie wühlte sich einige Sekunden durch das Wirrwarr und öffnete schließlich unverblümt die abgenutzten Lederbeutel, die Eva gehörten. „Wonach suchst du?“ Das suspekte Verhalten der zierlichen Elfe wusste Peter abzulenken. „Wieso hast du das Einhorn eigentlich Momo genannt?“, lenkte Lily vom Thema ab, während sie zielstrebig Evas Hab und Gut durchsuchte. „Wieso?“ Peter musste nicht lange überlegen, um diese Frage zu beantworten. Warum seine Gefährtin allerdings ausgerechnet jetzt auf dieses Thema zu sprechen kam, gab ihm Rätsel auf. „Wieso nicht? Ist der Name eines Freundes. Meines besten Freundes, kann man sagen.“ „Ah ha.“ Noch immer wühlte die Elfe unverblümt in fremden Gepäckstücken. „Und ist Momo ein weit verbreiteter Name, dort wo du herkommst?“ Peter stand endlich wieder auf und näherte sich achtsam dem mystischen Reittier, seinen neuen besten Freund. Der Gedanke an Maurice brachte ihn zum Schmunzeln. Ähnlich waren sich die beiden Momos nicht wirklich. „Das ist nur ein Spitzname, weißt du; eigentlich heißt sein Namensgeber Maurice. Gibt schon einige, die so heißen.“ Die Ausführungen des Jungen brachten Lily nicht aus der Fassung. Für sie war das alles neu, wenngleich sie zweifelsohne einer pikanten Vermutung nachging. „Wieso interessiert dich das eigentlich?“ Als er diese Frage stellte, wandte sich Lily ihm zu. In ihren Händen hielt sie ein Stück Papier, das sich bei näherer Betrachtung, zu Peters großer Überraschung, als ein Foto herausstellen sollte; eines, wie er es nur von der Erde her kannte. Und mehr noch ... „Vor einigen Jahren kam Lara, Evas Mutter, auf einem Einhorn nach Ballybofey geritten. Wir konnten es kaum fassen, so faszinierend war dieses Erlebnis.“ Lily schwelgte in Erinnerungen längst vergangener Zeiten. „Als Eva nach seinem Namen fragte, sagte ihre Mutter, der lautete Momo ...“ Peter verstand gar nichts mehr. Er wollte jetzt mehr als alles andere sehen, was auf dem Foto abgebildet war, das Lily in den Händen hielt. Noch zögerte die Elfe, es zu offenbaren. „Jetzt verstehst du vielleicht auch, warum ich es lieber gehabt habe, vor allem Eva in dem Glauben zu lassen, das wäre alles meine Idee gewesen“, erzählte sie. „Sie weiß auch nicht, dass ich diese Bilder kenne. Ich bin nicht stolz darauf, nur froh darüber, sie dir an ihrer Stelle zeigen zu können, bevor ...“ „Bevor was?“, hauchte Peter mehr, als dass er sprach. „Sieh selbst“, sprach Lily und überreichte dem Jungen schlussendlich das Bild. Was Peter darauf sah, konnte und wollte er nicht glauben. Es war so viel mehr als nur irgendein Foto. Es war eine Erinnerung an seine Jugend, an eine unbeschwerte Zeit, in der er wirklich glücklich gewesen war. Eine Zeit, in der das goldene Trio noch komplett war. Julie, Maurice und er. Auf dem Bild selbst sah er eine dreizehnjährige Julie Lauret, die vom schon damals hochaufgeschossenen Maurice umarmt wurde. Sich selbst konnte er auch gut erkennen, wenn auch nur in Gedanken, da er damals hinter der Polaroidkamera stand, die Julies Vater gehört hatte, und die drei an jenem Tag heimlich mit zum Hafen genommen hatten. Das konnte doch unmöglich wahr sein ... „Wen?“, stammelte der Franzose. „Wen siehst du, Lily?“ Die Elfe verstand zunächst nicht, was er meinte. „Wenn du dir das Mädchen auf diesem Bild ansiehst, wen siehst du darauf?“, fragte er ein weiteres Mal, diesmal genauer, ohne dabei die Augen von der Fotografie nehmen zu können. „Nun ...“ Lily hatte Angst, es auszusprechen, konnte in Peters Augen jedoch ein Flehen erkennen, das es ihr unmöglich machte, sich jetzt noch irgendwie aus der Affäre rauszuwinden. „Sie ist darauf noch sehr, sehr jung, aber das ist Evas Mutter. Lara“ ___________________________________________________________ Als die Tür sich öffnete, machte Nuga zwei Schritte zur Seite, um seiner Herrin und ihrem Gast den Weg hinaus nicht zu blockieren. Das Gespräch der beiden hatte circa eine Stunde gedauert. Zuletzt hatte reges Treiben in diesen Teil der Gewölbe geherrscht, wo es sonst doch gerade hier zumeist ruhiger war, als irgendwo anders. Ob Miraaj auf den Schutz des großen Dunkelelfs wirklich angewiesen war, bezweifelte nicht zuletzt Nuga selbst, doch war er gerne in ihrer Nähe und sehr stolz darauf, dass die Magierin ihm so großes Vertrauen schenkte. Von den Fremden ging keine Gefahr aus, wenn Nuga, der mit angesehen hatte, welch brutales Ende ein Konflikt inmitten ihrer Kreise nahm, sie auch mit Misstrauen beäugte. Ob nun Peter, den es zuerst in die Gemächer Miraaj' gezogen hatte, oder Eva, die diese in jenem Augenblick wieder verließ. Vielleicht sah die Menschenfrau die Skepsis in den Augen des Elfs. Mehr als einen flüchtigen Blick, riskierte sie allerdings nicht. „Ein weiteres Mal: danke, Nuga“ würdigte Miraaj das Pflichtbewusstsein ihres Artgenossen höflich. „Hast du in der letzten Nacht überhaupt Schlaf gefunden?“ fragte sie und legte besorgt ihre Hand auf seinen Arm. „Viel Schlaf brauche ich nicht“, antwortete der Elf verlegen. „Ob du das auch sagen würdest, wenn du auf der anderen Seite Wache stehen würdest?“ spielte die Hohepriesterin auf die vielen Kinder im Untergrund an. „Die Kleinen könnten das ein oder andere von mir lernen, glaube ich.“ Miraaj lächelte und stimmte zu: „Zweifellos! Und deswegen bist du ja auch hier bei mir.“ Nuga rümpfte die Nase. Er war die Spitzen seiner Angebeteten gewohnt und ihr keineswegs böse deswegen. Es war diese eine, kleine Sache, die ihn auf eine persönlichere Art und Weise mit Miraaj verband. Er würde sie nicht missen wollen. „Demnach bin ich vom Dienst befreit?“ „Vorerst“, sagte Miraaj nickend. Sie beobachtete Nuga, bis er aus Hörweite verschwunden war. Dann wandte sie sich wieder an ihren Gast. „Und was gedenkst du nun zu tun, Eva?“ „Ist das eine Fangfrage?“ gab sich die junge Kriegerin verblüfft. „Keineswegs.“ „Tja ... es gibt keinen Grund für mich, dir nicht zu vertrauen, warum also nicht dem Pfad folgen, den du für uns alle ausgelegt zu haben scheinst.“ „Das klingt, als hegtest du Zweifel“, bemerkte die Dunkelelfe. „Natürlich tue ich das.“ Eva gab sich selbstbewusst. „Das ist mehr – weit mehr – als ich mir je erträumt hätte. Eine echte Aufgabe ...“ „Der vor allem du gewachsen bist“, eröffnete Miraaj ihrem Gast ohne Umschweife ihr großes Vertrauen. „Das hoffe ich.“ Einen Moment lang zweifelte Eva an der Ehrlichkeit ihrer Worte. „Ich ...“ Überraschenderweise unterbrach das Gespräch der beiden Frauen ausgerechnet der kleine Jin, der zügig durch die Korridore schwirrte, scheinbar auf der Suche nach etwas Bestimmten. Beinahe kollidierte er mit Eva, konnte ein derartiges Missgeschick aber gerade noch rechtzeitig abwenden indem er abrupt seinen Flug stoppte. Es war ihm unangenehm, die beiden zu stören. Er hatte gehofft, Miraaj allein zu erwischen. Evas Anwesenheit machte alles nur komplizierter. „Kann ich dir helfen?“ Miraaj hoffte darauf, von dem Jungen dessen Namen zu erfahren, doch der brachte kein Wort über die Lippen. „Jin“, half Eva ihr aus. „Jin!“ gab sich Miraaj entzückt, mit ihm Bekanntschaft zu machen. Natürlich spürte sie das Unbehagen, das er ausstrahlte; dazu bedurfte es auch keiner Magie. „Wir hatten noch nicht das Vergnügen.“ Die freundliche und zuvorkommende Art der Hohepriesterin wusste zumindest den Elf erste Scheu überwinden zu lassen. Interessanter war für ihn in eben jenen Moment jedoch, wie quicklebendig Eva sich präsentierte. „G-geht es dir gut?“ fragte er verwundert. „Huh?“ Eva begriff nicht, wie merkwürdig sie in ihrem munteren Zustand auf den Elfenjungen wirken musste. „Sehe ich etwa so mitgenommen aus?“ vermutete sie völlig falsch. „N-nein, nein!“ entschuldigte sich Jin. „Ganz im Gegenteil, du siehst hervorragend aus! Wie ... neu ...“ „Du hast mir nicht erzählt, dass du einen Verehrer hast“ witzelte Miraaj. „Und dazu noch so einen attraktiven!“ Jin war die ganze Situation reichlich peinlich; dennoch erleichterte ihn die gewonnene Gewissheit, dass es Eva gut ging. Es freute ihn nicht zuletzt für Lily. Die Kindereien, die ausgerechnet von der souveränen Magierin ausgingen, waren schnell vergessen. „Suchst du jemanden, Jin?“ fragte Eva. „Eigentlich ...“ Jin zögerte. Er wollte nicht mit der Tür ins Haus fallen. Am liebsten wäre es ihm gewesen, wenn niemand von seinen Freunden erfahren würde, was sein Anliegen war. Miraaj spürte die innere Zerrissenheit des Waldelfs und kam ihm zuvor. „Tja, wer könnte dir wohl besser helfen, dich hier unten zurecht zu finden, als ich, huh?“ „Haben sie denn ein paar Minuten für mich Zeit?“ fragte Jin höflich und mit Ehrfurcht in der mutlos wirkenden Stimme. „Ich denke, ich kann dich jetzt aus meinen Fängen entlassen, Eva. Es wäre wohl das beste, deinen Leuten letzte Sorgen zu nehmen, und dich ihnen im neuen Glanz zu präsentieren. Was meinst du?“ „Wenn ihr es sagt“, gab sich die Kriegerin, der die ein oder andere Frage durchaus noch auf der Zunge brannte, einsichtig. Sie schritt zügig von dannen. Ihren Freunden zu begegnen, ihnen für ihre Treue zu danken und ihre Ängste zu nehmen, hatte jetzt Vorrang. Miraaj hatte ihr einen großen Gefallen getan; was die Dunkelelfe ihr anvertraut hatte, sollte nicht mehr lange ein Geheimnis zwischen den beiden Frauen bleiben; es galt nun, den Gefährten die Bedeutung einer Reise zu erklären, von der Lester, Peter und die anderen, noch gar nicht wussten, dass sie ihnen bevorstand. ___________________________________________________________ Nach Lilys Attentat auf Alicia ließen sie und Peter einige Zeit verstreichen, bis sie denselben Weg hinab in die Gewölbe beschritten; ihr wieder über den Weg zu laufen, wollten beide nicht riskieren. Es war an der Zeit, in die Krypta zurückzukehren – vermutlich warteten ihre Freunde bereits auf sie. Von just Erlebten ablenken, konnte der Gedanke an Eva sie jedoch nicht, auch wenn sowohl der Franzose als auch die Waldelfe an seiner Seite gespannt waren, sie wieder auf den Beinen zu sehen. „Sie ist tot, nicht wahr?“, fragte der Franzose entgeistert, den Blick starr gen Boden gerichtet. „Ja.“ antwortete Lily offenkundig. „Sie starb bei dem Versuch, Menschen aus der Festung auf Caims zu retten, obwohl ...“ „Obwohl was?“ „Nun ja ...“ Zögerlich begann die Elfe, sich die Geschichte von damals zusammenzureimen. Ob es das Richtige war, ihm das alles anzuvertrauen, vermochte sie nicht zu beurteilen. „Lara und einige andere hatten sich vor allem deshalb in Ballybofey eingerichtet, da der Wald nahe der Elfenbeinsee lag. Trotz der Gefahren, die die Reisen nach Caims bargen, zog es sie oft auf die Insel. Sie überfielen dort Karawanen der Dunkelelfen und befreiten auf diese Weise viele versklavte Menschen“, erzählte sie. „Klingt das nach deiner Freundin?“ Es klang viel erwachsener, als alles, was Peter bisher in seinem Leben getan hatte. Mutiger, selbstloser und nicht zuletzt gefährlicher, aber waren das wirklich die Taten seiner Julie? „Ich weiß es nicht“, gab er schließlich zu. „Es klingt, als wäre sie in dieser Welt eine echte Heldin gewesen.“ Lily vermied nun ihrerseits Augenkontakt mit ihrem Gefährten. Peters Worte riefen unangenehme Erinnerungen hervor. „Das war sie“, versicherte sie. „Doch hatte sie noch ein anderes Anliegen.“ „Huh?“ „Ich glaube ...“ Die Elfe zögerte; sie war sich sicher, dass Peter ohne die folgenden Details besser dran gewesen wäre, und doch gelang es ihr einfach nicht, sie für sich zu behalten. „Ich glaube, sie wollte Gardif töten ...“ Peter war schockiert über diese Nachricht. Was hätte einen von Grund auf gutherzigen Menschen wie Julie je dazu treiben können, jemandem ernsthaft Schaden zufügen zu wollen? Sogar er selbst, der er die Greueltaten der Dunkelelfen aus nächster Nähe miterlebt hatte, zweifelte, ob er überhaupt den Mut dazu aufbringen könnte, eine Waffe auf einen Feind zu richten. Bevor er nachfragen konnte, unterbrach Lily seine verrückt spielenden Gedanken hastig. „Du wirst ihr doch nichts erzählen, oder?“, fragte sie. Peter wusste sofort, was sie meinte und zögerte nicht mit einer Antwort. „Was würde das denn nützen? Ich meine: Was würde es bringen? Für sie würde es keinen wirklichen Unterschied machen, oder? Nur, dass sie mir wahrscheinlich nicht mehr in die Augen sehen könnte.“ Peter schüttelte den Kopf. „Das ist doch alles total verrückt!“ „Tut mir leid! Ich hätte dir das nicht erzählen dürfen“, gab sich Lily dem Anschein nach schuldbewusst. „Nein, nein, ist doch Unsinn!“, verwarf der Junge ihre späten Bedenken. „Du hast das Richtige getan. Früher oder später wäre das Thema aufgekommen. Und dann? Ich bin heilfroh, dass du dem vorgegriffen hast. Ich danke dir! Das tue ich wirklich.“ Seine Worte schmeichelten der Elfe und beruhigten sie zugleich ungemein. Ihre Taten hatte sie beileibe nicht minutiös im Voraus geplant, doch war Lily von dem Moment an, in dem die Erkenntnis über Peters Verbindung mit Lara in ihr gereift war, fest entschlossen, ihm jenes Geheimnis anzuvertrauen. Ein wenig wunderte sie sich über sich selbst. Ihre Freundschaft mit Eva hatte schließlich schon weitaus bessere Zeiten erlebt; und doch sah sie sich fast schon selbstverständlich dazu verpflichtet, eine für die ohnehin fragile Psyche ihrer Schwester so gefährliche Kunde von ihr fern zu halten. Doch tat sie Eva damit wirklich einen Gefallen? Das Risiko, so rückte Lily ihre Entscheidung ins rechte Licht, war es einfach nicht wert, eingegangen zu werden. „Das wird wirklich das Beste sein. Eva ist über den Verlust nicht richtig hinweg, musst du ...“ Lily stockte, während sie Peter musterte, der dicht neben ihr die feuchtwarmen Hallen beschritt. Was war mit ihm? Zweifellos hatte er noch immer mit der Fassung zu kämpfen. „Verzeih ... Ich wusste ja nicht, wie gut ihr euch kanntet.“ „Schon in Ordnung“, versuchte Peter von sich abzulenken. „Aber wie ist das alles überhaupt möglich? Julie war erst vierzehn, als sie verschwand, und das ist jetzt gerade mal fünf Jahre her.“ „Da fragst du die Falsche“, musste Lily ihren Freund enttäuschen. „Ich weiß nicht genau, wie das funktioniert, aber ich habe gehört, dass die Zeit hier schneller vergeht, zumindest im Verhältnis zu deiner Heimat. Allerdings habe ich noch nie von einem Menschen gehört, der dies auch so wahrnimmt. Wer weiß, worin sich eure und die unsere Welt noch unterscheiden? Wo sie sich auf der anderen Seite doch so ähnlich scheinen“, philosophierte die Waldelfe. Peter erinnerte sich, Andeutungen dieser Art von seinen Gefährten vernommen zu haben. Er wusste, dass Eva achtzehn Jahre alt war, konnte aber überhaupt nicht einschätzen, wie alt Julie wohl gewesen war, als sie schwanger wurde; oder von wem[/]. Julie eine Mutter? Jeder Gedanke, den er aufbrachte, jenes Mysterium zu ergründen, quälte ihn. Neil hatte ihn wohl doch nicht angelogen, nur die Wahrheit verschleiert. „Wir sind fast da“, bemerkte Lily und stoppte auf dem Fuße. Sie ergriff die Hand des Franzosen um sich seiner ungeteilten Aufmerksamkeit sicher zu sein. „Vielleicht wird die Zeit kommen, an der du Eva mitteilen musst, was du heute erfahren hast, aber versprich mir, dass du damit warten wirst, ja?“ „Ich dachte, das hätte ich schon längst.“ „Ernsthaft!“, rügte die Waldelfe ihren Gegenüber. „Du vermagst nicht einzuschätzen, wie sehr Eva ihre Mutter geliebt hat“ Mehr noch, als er selbst? „Noch mehr Fragen und noch mehr Erinnerungen werden ihr nicht weiterhelfen, Peter!“ „Lily!“, adressierte Peter die Elfe entschlossen und packte sie sanft bei den Schultern. „Ich verspreche dir, darüber kein Wort zu verlieren. Okay?“ „O-okay“, sprach sie ihm nach. Leicht verschüchtert errötete Lily. An Peters Worten, zweifelte sie nicht mehr. Er würde kein Wort über Lara verlieren, so viel war sicher. Im schwachen Schein des Feuers der spärlich gesäten Fackeln hier unten, schimmerte so deutlich wie selten der dunkelviolette Farbton in der zerzausten Haarpracht der Waldelfe durch. Peter bemerkte jene exotisches Merkmal an seiner zierlichen Gefährtin zum ersten Mal. Da waren sie wieder, die verschwommenen Erinnerungen an seine erste Begegnung mit dem kessen Mädchen. Jetzt, da er Lilys wahres Ich kennengelernt hatte, bewunderte er in erster Linie ihr schauspielerisches Talent, doch der aufmerksamen jungen Dame entgingen die Blicke des Menschen nicht. „Was gefunden, was dir gefällt?“, säuselte sie amüsiert. „Ich dachte , du hättest pechschwarzes Haar“, antwortete Peter plump und setzte sich wieder in Bewegung. Lily begriff schnell, dass er sich ganz absichtlich abweisend und uninteressiert gab. Sie störte sich nicht daran, schließlich wollte sie ja nur auf seine Kosten ihren Spaß haben; das ihr kleines Vorhaben nicht auf Anhieb gelang, motivierte die kleine Elfe nur noch mehr. „Tja, das kann ich dir nicht übel nehmen, immerhin gibt es so viele andere faszinierende Details, die den Leuten ins Auge fallen, wenn ihre Blicke an mir hängen bleiben“, behauptete sie, während sie sich reichlich aufdringlich von ihrer Sahneseite präsentierte. „Aber sicher, Lily, ganz bestimmt“, gab sich der Franzose sarkastisch. „Belüg' dich nur selbst, mein Freund, irgendwann wirst du dem Verlangen nachgeben müssen und mir deine Liebe gestehen!“ Es klang, als las sie aus einem kitschigen Märchen vor. „Doch dann wird es zu spät sein, und du wirst deine böse Zunge verfluchen ... ja, ja.“ „Mein Gott, du hast doch nicht etwa getrunken!?“ Die Waldelfe konnten ihr Lachen nicht mehr zurückhalten. Sie gluckste vergnügt, wie Peter es von ihr gar nicht kannte, so sehr erleichterte die Elfe das zweifelsohne kindische Geplänkel mit ihm. Den Jungen freute es, sie und letztlich auch sich selbst auf diese Art und Weise von ernsteren, traurigeren Themen ablenken zu können. Lily hatte in jüngster Vergangenheit genug Grauen gesehen – Stoff für viele Alpträume. Lachend, gefiel sie ihm besser. „Du hast wirklich ein Talent dafür, mir den Tag zu versüßen“, schmeichelte sie ihm ein weiteres Mal. ___________________________________________________________ Eva stachen die beiden Rückkehrer als erste ins Auge. Sie saß an dem selben Ort, an dem ihre Kameraden vor kurzer Zeit noch um ihr Wohlergehen, ihr Überleben gebangt hatten. Sie saß dort aufrecht in ganzer Pracht und bester Verfassung, während Lester und die anderen ihren Erzählungen lauschten. Zu Peters Überraschung auch Viola, Aarve und die Elfe Herz, die ihm in der vergangenen Nacht begegnet war. Sie hatte Recht behalten: Eva war wieder auf den Beinen. Der Blick der jungen Frau heftete regelrecht an dem Duo. Sie war überrascht, Lily so fröhlich zu sehen. Ihr fiel es schwer, sich an Zeiten zu erinnern, in denen sie ihre Freundin so sorglos erlebt hatte; das war in der Tat lange her. „Na endlich!“ brummte Lester von seinem angestammten Platz aus. „Ihr habt ganz schön auf euch warten lassen.“ Der gutmütige Riese störte sich nicht wirklich an der Verspätung der beiden. Dazu überwog seine Freude, Eva wieder bei sich zu haben, viel zu sehr. „Setzt euch! Es gibt noch einiges zu besprechen, bevor wir weiter ziehen!“ Lily konnte und wollte sich nicht mehr zurückhalten. Sie wuselte an ihren Gefährten vorbei direkt auf Eva zu und schloss das blonde Mädchen fest in ihre Arme. Es tat unsagbar gut, ihr nach so unendlich langer Zeit wieder in reiner Freundschaft zu begegnen. „Um Gottes Willen ...“, entfuhr es Aarve sofort, wofür er postwendend mit einem nicht zu verachtenden Schlag in die Magengegend belohnt wurde. Nein, ihr Taktgefühl hatte Viola über die Jahre nicht verloren. „Lily“, hauchte Eva perplex. „Es tut mir so leid, was passiert ist“, erklärte die junge Elfe. „Ich bin froh, dass es dir wieder gut geht. Ich werd' mich nie wieder so kindisch benehmen, versprochen!“ Eva konnte sich zu keiner Reaktion zwingen. Sie war völlig sprachlos ob der offenherzigen Aussprache ihrer Schwester. Wie sehr sie sich verändert hatte; wie erwachsen sie geworden war. Dabei war sie es gar nicht gewesen, die einst einen Keil zwischen ihre Freundschaft trieb. Ich müsste dich um Vergebung bitten, dachte Eva, doch sagte sie keinen Ton. Das musste sie auch gar nicht, denn das Mädchen in ihren Armen war längst mit sich und ihr im Reinen, und sie hatte es ganz allein so weit geschafft. Eine beneidenswerte Entwicklung, deren Resultat es war, dass Eva eine schwere Last von den Schultern genommen wurde; ausgerechnet von ihrer sturen Freundin Lily, von der sie geglaubt hatte, dass sie ihr jene Worte von vor vier Jahren auf Ewig nachtragen würde. ... ... ... ... ... ... Ballybofey, Waldrand. Vier Jahre früher (Minewood-Zeit) Eva durchwühlte aufgebracht eine der vielen Truhen in ihrem Haus. Hinter ihrem Rücken erstreckte sich das reinste Chaos. Überbleibsel ihres wütenden Streifzuges durch ihr Eigentum und – allen voran – dem ihrer Mutter. Sie war nicht auf der Suche nach etwas Bestimmten, nur nach Erinnerungsstücken, nach allem, dass sie ihrer Mutter näher bringen konnte. Doch hob sie nichts dergleichen auf, steckte keinen einzigen Gegenstand ein. Ganz im Gegenteil – das vierzehnjährige Mädchen warf achtlos jedes Andenken auf den Boden, weit von sich weg. Sie zerriss Bilder, die sie selbst gemalt hatte, zerschmetterte Geschenke, die sie zuvor wie Schätze behütet hatte. Das alles hatte scheinbar keinerlei Bedeutung mehr für sie. Sie wollte alle Erinnerungen an ihre Mutter auslöschen. Erinnerungen an die Frau, die immer wieder aufs Neue ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatte, um völlig fremden Menschen zu helfen, während die eigene Tochter zu Hause um sie bangte. Als hätte sie nur darauf gewartet, eines Tages im Kampf den Tod zu finden. In der letzten Truhe, die Eva auf ihrem erbarmungslosen Streifzug gegen jedwede Reminiszenz an ihre einstmals geliebte Mutter, durchsuchte, fand sie ihr noch unbekannte Besitztümer. Es waren einige Bücher, die ganz anders aussahen, als die, die Eva kannte. Sie waren merkwürdig gebunden, ihre Umschläge in kräftigen, grellen Farben gehalten. Unter den Büchern fand das Mädchen auch einige merkwürdige Bilder, zu real, um gezeichnet zu sein. Fotografien, fiel es ihr wieder ein – einige wenige dieser Art hatte sie in Tapion gesehen. Ihre Neugier war geweckt, doch überwog noch immer die Wut jedwede Sentimentalitäten. Nur flüchtig musterte sie die Bilder und ließ sie anschließend wieder fallen. Sie blätterte ein paar Mal wild durch die kleinen Bücher. Lesen konnte sie nur bruchstückweise, was darin geschrieben stand. Ihre Mutter hatte sie niemals in der Sprache ihrer Heimat unterrichtet. Überhaupt verlor sie so gut wie nie ein Wort über ihre tatsächliche Herkunft. Stattdessen wurde ihr schon von Klein auf das geschriebene Wort der Waldelfen beigebracht, so, wie den meisten Menschen in Minewood. Wann immer sie die Unkenntnis in jener Sprache daran hinderten, Sinn aus den Schriften zu ziehen, schürte das das Feuer der Wut in ihrer Brust nur noch mehr. Schließlich gab sie ihre Bemühungen entmutigt auf und warf auch die Bücher zu all dem anderen Gerümpel, von dem sich das junge Mädchen einredete, dass es ihr nichts mehr bedeutete. Nun lagen direkt vor ihrer Nase nur noch die Fotografien, auf denen sie ihre Mutter wiedererkannt hatte. Sie musste zum Zeitpunkt dieser Aufnahmen ungefähr so alt gewesen sein, wie Eva es heute war. Sie wirkte glücklich auf diesen Bildern, inmitten von ihren Freunden und Familienmitgliedern, die Eva völlig fremd waren. Ob der Mann mit dem schütten Haar vielleicht ihr Großvater war? Der groß gewachsene Junge ein Cousin? Waren sie doch nur Freunde? Als jemand die Tür zur Hütte öffnete, sammelte Eva hastig alle Fotos zusammen, die sie auf die Schnelle zu fassen bekommen konnte und ließ sie in ihren Taschen verschwinden. Als sie sich zu dem Eindringling umdrehte, erkannte sie zu ihrem Erstaunen ihre Freundin Lily. Ihr Gesicht war ein einziges Trauerspiel und symbolisierte in jener Stunde das krasse Gegenteil von Evas Gefühlswelt – zumindest deren Oberfläche. „Was willst du?“ fragte das blonde Mädchen ungehalten. „I-ich ...“ Lily konnte kaum einen vernünftigen Satz bilden, so sehr schmerzte ihr Herz. „Eva ...“ „WAS?“ hallte es der kleinen Waldelfe entgegen. „W-was ist mit dir? Hast du es denn noch nicht gehört?“ schluchzte Lily aufgelöst. „Natürlich ... Doch warum bist du hergekommen? Etwa, um dich bei mir auszuweinen? Oder einfach nur, um mir zu zeigen, wie schwach du bist?“ Die Hasstiraden des zornigen Mädchens trieben nur noch mehr Tränen in das glühend rote Gesicht der Elfe. Lily konnte überhaupt nicht fassen, wie Eva auf ihre Trauer reagierte, und dass sie selbst nicht zu trauern schien. Sie konnte ja nicht ahnen, was in ihrer besten Freundin vor sich ging. In Evas Situation schürte die Schwäche Lilys das Feuer nur noch mehr. Gedanken an die große Sippschaft der Elfe, machten sie geradezu rasend. Sie hatte schließlich noch Familie. „Warum gehst du dich nicht zu deinen Geschwistern, oder zu deinem Vater?“ „Du ...“ Evas selbstzerstörerischer Zorn drohte nun auch auf Lily überzuschwappen. „Wie kannst du es wagen, so mit mir zu reden?“ „Nein! Wie kannst du es wagen, hier aufzukreuzen und mir deine Tränen aufzubürden?“ wurde Eva immer persönlicher. „Nicht du bist allein, ich bin es!“ Lange zögerte Lily, ihrer Freundin zu antworten, so schockiert war sie von deren Äußerungen. Vielleicht gab es auch gar keine passende Antwort darauf, vielleicht aber auch keine passendere. „Wie konnte ich nur so dumm sein?“ hauchte sie. „Als erstes ausgerechnet an dich zu denken ...“ Eva schwieg. „Es war deine dumme Mutter, die meine zu diesem Unsinn angestiftet hat! Es war immer Lara, von der alles ausging! Die anderen haben immer nur geholfen, weil sie von ihr geblendet wurden. Nur sie hat den Tod verdient!“ „Raus ...“ schaffte Eva es gerade so über die Lippen zu pressen. „Mit dieser Schuld musst du jetzt leben!“ „VERSCHWINDE!“ Als Lily die Tür hinter sich mit ganzer Kraft zuwarf, brach schließlich auch Eva unter der Last ihrer Gefühle zusammen und begann, wie die Elfe zuvor, bitterlich zu weinen. Natürlich trauerte sie; schon von der ersten Sekunde an, tat sie das; nur gelang es ihr bis jetzt, jenen unumstößlichen Fakt zu verstecken. Bis jetzt ... Ihre Mutter würde nie wieder nach Hause kommen; sie nie wieder in den Arm nehmen, nie wieder küssen, nie wieder unterrichten, nie wieder wütend auf sie sein, ihr nie wieder vergeben und nie wieder mit ihr lachen. Fortan würde sie ohne den Menschen durchs Leben gehen müssen, den sie am meisten geliebt hatte. Ob sie aber wirklich allein den vor ihr liegenden Weg beschreiten müsste, lag in ihrer eigenen Hand. Und eines war Eva nun, da sie ihre beste Freundin so schrecklich verletzt hatte, klar geworden: Ganz auf sich gestellt, würde sie es niemals schaffen. ... ... ... ... ... ... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)