Blaue Augen (Daisuki-Short-Story-WB) von Jitsch (Die geheime Verehrerin) ================================================================================ Kapitel 1: Blaue Augen ---------------------- Blaue Augen „Benjamin! Verdammt noch mal, wach gefälligst auf, ich muss los!“ Eine Stimme reißt mich aus meinen Träumen in die Gegenwart. Ich öffne die Augen und starre genau in das Gesicht meiner Mutter, der ein paar Haarsträhnen ins Gesicht fallen. „Na los, ab mit dir! Und stell dir ab Morgen gefälligst einen Wecker!“ Ich nicke, schiebe meine Füße aus dem Bett auf den Teppich und schlüpfe dann in meine Hausschuhe. Meine Mutter hat schon ihren Anzug an und eine Aktentasche unter dem Arm, fertig zum Gehen. „Du kommst klar, oder?“, fragt sie rein rhetorisch und verschwindet dann aus meinem Zimmer. Als ich gerade auf den Flur trete, höre ich die Wohnungstür unten ins Schloss fallen. Ich schlurfe erst einmal in die Küche, wo noch die Reste von ihrem Frühstück stehen und schütte mir Cornflakes und Milch in eine Schüssel. Ich habe Kopfschmerzen. Selbst heute noch fühlt sich mein Schädel an wie dreimal gebrochen und nicht wieder verheilt, und ich weiß auch, woran das liegt: Jans Geburtstagsfeier. Er hat seinen sechzehnten Geburtstag gefeiert, und da gab es natürlich jede Menge Alkohol. Und ich habe wohl ein wenig zu viel getrunken, mich maßlos überschätzt, weil ich noch nie richtig Alkohol getrunken hatte, und weil man das Zeug in den ganzen Alcopops kaum geschmeckt hat. Als ich ins Badezimmer komme, fällt mir auch wieder ein, was auf der Party noch passiert ist. Ich bin im Flur rumgerannt, eigentlich wollte ich glaube ich frische Luft schnappen gehen, aber die Tür nach draußen war so weit weg, und dann irgendwie halb fallend halb gehend, die Kellertreppe runter. Da bin ich dann in den Waschkeller gegangen, weil es da so schön kühl ist. Stimmt, ich erinnere mich. Die Tür ist aufgegangen und jemand ist reingekommen, ein Mädchen, aber ich konnte sie nicht richtig erkennen, weil das Licht nicht an war. Sie hat mich auch bemerkt und wir haben uns ne Weile Angeschaut, auch wenn ich von ihr nur die Augen sehen konnte, und dann haben wir angefangen, uns einfach so zu küssen. Ich sehe in den Spiegel und klatsche ich mir eine Ladung Wasser ins Gesicht. Wenn sie, wer auch immer das war, gewusst hätte, dass ich es bin, hätte sie mich nie geküsst. Aber wir waren nun einmal beide betrunken, und da macht man nun mal schon so einiges. Ich würde gerne wissen, wer es war. Vielleicht würde ich sie wiedererkennen, wenn ich ihr in die Augen sehe. Das, an was ich mich erinnere, sind blaue Augen und dunkle Wimpern. An der Bushaltestelle begrüßt mich Jan, mein bester Freund, sofort gut gelaunt: „Morgen Benny! Was für ein wunderschöner Montagmorgen, findest du nicht auch?“ Ich mustere seinen demonstrativ über der Jacke gewickelten Werder-Schal. „Morgen“, sage ich. „Hey, Werder hat gewonnen! Das kann ich Nils gleich dick unter die Nase reiben!“, freut sich Jan. Ich nicke abwesend und überlege, welche Mädchen alles bei der Party waren. Aber es waren viel zu viele. Es sind auch ein paar aus dem Dorf so gekommen, die Jan gar nicht eingeladen hatte, und ich erinnere mich auch nicht mehr allzu gut an die Party. Nur eben an die Szene in der Waschküche. Der Bus ist heute wieder krachend voll und Jan und ich setzen uns auf die hintere Treppe. „Du siehst immer noch n bisschen groggy aus“, stellt Jan fest. „Kopfschmerzen“, sage ich knapp. „Immer noch von Vorgestern?“ „Ja...“ Jan schweigt kurz und beginnt dann, mir noch einmal das gestrige Werder-Dortmund-Spiel in allen Einzelheiten zu erzählen, auch wenn ich das gar nicht wissen will. Meine Gedanken sind irgendwo weit weg, bei blauen Augen im Dunkeln... Jan labert immer noch, als wir aussteigen und die roten Steine zur Schule entlang gehen. Unser Klassenraum ist im zweiten Stock. Aus dem Raum dringt schon lauter Werder-Fan-Gesang. Noch von draußen stimmt Jan mit ein und stößt die Tür auf. Er begrüßt Jens mit Handschlag und lässt es sich nicht nehmen, Nils, unseren Dortmund-Freak mit einem freundlichen, aber irgendwie mitleidigen „Guten Morgen“ zu begrüßen. Ich dagegen bin in der Tür stehen geblieben und sehe verdutzt auf meinen Platz. Was ist das? Rosenblätter? Ich komme näher, es sind tatsächlich Rosenblätter, sogar echte, die da auf meinem Tisch verteilt sind. Der Rand ist einmal von ihnen umgeben und in der Mitte hat irgendjemand ein Herz daraus geformt. „Benny, du hast ja eine Verehrerin!“, stößt Jan aus und kommt zu mir gelaufen. „Sag mal, wer war das?“ Ich sehe die Rosenblätter an und zucke die Achseln. Ist ja schön und gut, dass mir jemand so etwas zukommen lässt. Aber es ist mir schon ein wenig peinlich, dass jetzt auch die anderen zu meinem Tisch kommen. „Hey, Benjamin. Weißt du, von wem das ist?“ „Hast du eine Freundin?“ Ich schüttele nur den Kopf. Vielleicht war es das Mädchen von Jans Party, aber dann müsste sie mich ja erkannt haben. Kommt sonst noch jemand in Frage? Ich schiebe die Rosenblätter zusammen und trage sie zum Mülleimer. „Was machst du denn da? So was schmeißt man doch nicht weg!“, ruft Jan. Ich schmeiße sie trotzdem weg. Was soll ich denn sonst damit anfangen, in meine Tasche tun etwa? Aber süß ist es ja schon irgendwie. Das Rätsel löst sich nicht an diesem Tag, obwohl ich die Mädchen aus meiner Klasse alle beobachte. Keine sieht mich auffällig oft an. Und so schön blau wie in meiner Erinnerung, sind auch die Augen von keiner von ihnen. Abends gibt es keine guten Filme im Fernsehen, also setze ich mich noch an den PC und sehe nach, ob ich neue E-Mails habe. Normalerweise schreibt mir niemand, aber heute habe ich tatsächlich eine neue Nachricht in meinem Postfach. Der Absender ist blueeyes@web.de. Wer wohl dahinter steckt? Ich öffne die Mail und auf dem Bildschirm erscheint ein rosa Hintergrund, auf dem mit roten Buchstaben etwas geschrieben steht. Ich sehe dein Gesicht vor mir Und mein Herz schlägt schneller Ich denke an deine dunklen Augen Und ich möchte bei dir sein Ich habe mein Herz verloren An dunkle Augen Ich weiß, bei dir ist es sicher Pass gut darauf auf Da hat sich tatsächlich jemand die Mühe gemacht, mir etwas zu dichten! Wer mag das sein? Wohl diejenige, die mir auch die Rosen hingelegt hat. Ob sie meine E-Mail-Adresse von der Klassenliste hat? Dann müsste sie ja in meiner Klasse sein. Oder sie hat jemanden aus meiner Klasse gefragt. Ich schreibe nichts zurück, mir fällt auch gar nichts Gutes ein. Ich drucke mir das Gedicht aus und lese es mir noch mal durch. Es ist wunderschön. So etwas soll jemand aus meiner Klasse geschrieben haben? Als ich Jan am nächsten Morgen an der Bushaltestelle davon erzähle, rät er mir, zurückzuschreiben und die Absenderin ganz profan zu fragen, wer sie ist. Aber ob ich das tun soll? Im Bus finde ich heute sogar einen Sitzplatz, neben einem Grundschüler, so dass Jan woanders sitzen muss. Wenn ich doch nur wüsste, wer es ist. Und ob es die von der Party ist. Ich bin irgendwie erleichtert, als mein Platz nicht schon wieder voller Rosen ist. Ich setze mich hin und seufze, weil ich die Englischvokabeln noch mal angucken muss. Frau Kunze fragt knallhart ab, und wenn ich dran bin und die nicht kann, habe ich ein Problem. Die Mädchen schenken mir keine Beachtung, wie immer. Nach der Schule bin ich gerade dabei, meine Tasche zu packen, als Herr Ring, der mit seinen zwei dicken Aktentaschen schon in der Tür steht, in die Klasse blafft: „Und ihr beide, da ihr nun schon mal noch da seid, macht mal ein bisschen sauber hier!“ Ich drehe mich zu dem um, der außer mir noch da ist, Reno Dyx. Unser Klassenclown und Mädchenschwarm schlechthin. „Aber ich muss zum Bus!“, protestiere ich. Herrn Ring interessiert das nicht, er geht einfach. Ich will den Bus nicht verpassen, aber ich kann doch jetzt nicht die Klasse so dreckig lassen. Die ganzen Papierschnipsel auf dem Boden und die vielen Radiergummistücke! „Geh nur, ich mach das schon“, sagt Reno und schnappt sich den Besen. „Echt?“, frage ich erstaunt. Es ist mir neu, dass der sich um Sauberkeit schert. „Na los, geh schon“, sagt er freundlich. „Dankeschön“, murmele ich, als ich aus dem Klassenraum verschwinde. Reno hatte ich gar nicht so nett in Erinnerung. Aber andererseits habe ich mich noch nie sehr um irgendeinen meiner Klassenkameraden gekümmert. Ich beeile mich, dass ich den Bus noch erwische. Als ich am nächsten Tag das Haus verlasse, regnet es in Strömen. Ich ziehe mir die Kapuze über und renne auf dem Weg zur Haltestelle, wo zum Glück ein Bushäuschen steht. So ein Mistwetter! Der Bus kommt natürlich prompt zu spät, und wegen dem Regen ist er so voll, dass ich nur einen Stehplatz bekomme. Das ist ja ein super Tag. Wie ich mich kenne, kann es nur noch schlimmer werden. Als Jan und ich in die Klasse kommen, stelle ich fest, dass ich nicht der einzige bin, den es schlimm trifft. Reno wringt gerade seine Haare aus und ist von oben bis unten hin nass. „Morgen! Was hast du denn gemacht?“, ruft Jan. Reno sieht auf. „Ich bin mit dem Fahrrad gekommen und n bisschen nass geworden, sieht man das nicht?“ Ich zucke zusammen, als mein Blick mich streift. Seine Augen sind blau. Aber das kann sowieso nicht sein. Ich beachte Reno nicht weiter, ich muss nämlich noch die Mathehausaufgaben von Jan abschreiben. Den Brief bemerke ich erst in der dritten Stunde, als Jans Kugelschreiber unter meinen Tisch fällt. „Heb mal auf“, sagt er, und ich bücke mich unter den Tisch. Dabei streift etwas aus Papier meinen Kopf. Ich gehe noch ein bisschen mit dem Kopf runter und greife mit der rechten Hand nach dem Etwas aus Papier. Jan bedankt sich für den Kugelschreiber und ich betrachte, was da unter die Metallstange unter meiner Tischplatte geklemmt war. Es ist ein Umschlag aus reinem weißen Papier. Von wem er wohl stammt? „Herr Samtmann, würden Sie mir bitte etwas Aufmerksamkeit schenken?“, brüllt mich auf einmal Herr Däumel von der Seite an. „Tschuldigung“, murmele ich und lasse den Brief in meiner Tasche verschwinden. In der kleinen Pause verschwinde ich mit dem Brief auf der Toilette, ziehe die Beine an und betrachte ihn von außen. Es steht nur mein Name drauf, in einer ordentlichen, geschwungenen Schrift, mit schwarzer Tinte. Dann schiebe ich meinen Zeigefinger in den Umschlag und ziehe den Brief hervor. Er ist ebenfalls rein weiß, ein Din-A4-Blatt, dreimal gefaltet. Ich schlage es auf meinen Knien auf und lese die Handschrift. Benjamin, Ich möchte dich sehr gerne treffen. Wie wäre es mit heute Nachmittag in Heyde im Park um 15 Uhr? Ich würde mich freuen. Wenn du einverstanden bist, klemm den Brief wieder unter den Tisch, dann weiß ich Bescheid. Pünktlich um fünfzehn Uhr bin ich am Park. Er ist nicht besonders groß, nur ein kleiner Teich, mit einem Kiesweg darum herum und ein paar Bäumen am Ufer. Und, wo bleibt jetzt meine geheimnisvolle Verehrerin? Ich setze mich auf eine der grün gestrichenen Bänke, die am Weg stehen und von der Kreissparkasse finanziert wurden. Wer mag es denn nun sein? Steffy, Sabina, Alina, Irina, Evelyn, Petra ... Es gibt so viele Mädchen, die in Frage kommen. Um viertel nach drei wird es mir schon etwas langweilig. Vielleicht wollte sich da nur jemand über mich lustig machen und hockt jetzt irgendwo, um sich über mich schlappzulachen. Ich sehe mich um, aber niemand ist zu sehen oder zu hören. Nur eine fette Frau mit ihrem Mini-Hund, die in Richtung Bäckerei unterwegs ist. Ich sehe auf meine Uhr und fasse einen Entschluss. Wenn sie um zwanzig nach nicht da ist, gehe ich. Dann ist sie selber Schuld, wenn sie nicht rechtzeitig kommt. Als ich um 15:20 Uhr auf meine G-Shock schaue, gebe ich ihr doch noch etwas Zeit, schließlich bin ich neugierig, wer es nun ist. Auf dem Teich kann ich kleine Wasserringe beobachten, die scheinbar aus dem Nichts auftauchen. Die Pappel neben mir wiegt ihre Blätter leicht im Wind. Ich schaue auf, als ich Geräusche höre. Jemand nähert sich aus Richtung der Hauptstraße. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich dieser Jemand als ein Junge, der sein rotes Fahrrad neben sich herschiebt und ziemlich frustriert aussieht. Die Kette schleift auf dem Boden und schlägt ständig gegen das Hinterrad. Bei näherem Hinsehen erkenne ich Reno, dem die langen blonden Haare strähnig ins Gesicht fallen. Was macht der denn hier, er wohnt doch in Langhorst! Reno sieht auf und bemerkt mich. Er hebt die Hand zu Gruß, und ich winke zurück. Dann schiebt er sein Fahrrad in meine Richtung und lehnt es an die Lehne der Bank. Mir wird das immer unheimlicher. Will Reno jetzt mit mir sprechen? Aber was, wenn gerade jetzt meine Verehrerin kommt, dann traut sie sich am Ende nicht, mich anzusprechen. Reno sinkt neben mir auf die Bank. „Tut mir Leid, dass ich so spät bin. Mir ist kurz hinter Heyde-Bühl die Kette abgesprungen und ich musste zu Fuß gehen.“ Ich sehe auf meine Knie und versuche, einen Sinn in seinen Worten zu finden. „Wa- wa- waren wir verabredet?“, stammele ich. Das ist mir zu viel. Wenn er gleich sagt, dass... „Ich habe den Brief geschrieben.“ Es ist zu viel. Ich springe auf. „Du hast wohl ein Mädchen erwartet“, sagt Reno. Ich bin vollkommen verwirrt. Natürlich habe ich ein Mädchen erwartet! Wie soll ich denn auch darauf kommen, dass er... und vor allem, ich meine, ich... Ich habe neulich einen JUNGEN geküsst!?! Ich bin schwul? Ich will am liebsten weglaufen, aber irgendwas hält mich zurück. „Benjamin“, sagt Reno. Ich erschaudere. Aus seinem Mund klingt mein Name so wie etwas kostbares, einfach wunderschön. Ich drehe mich zu ihm und er sieht zu mir hoch. Seine Augen sind noch schöner als vor vier Tagen und glänzen im Sonnenlicht. Er lächelt mich an. „Ist es denn so abartig, einen Jungen zu lieben?“, fragt er mich. Ich kann nicht anders, ich schüttele meinen Kopf. „Nein...“, sage ich leise. Ich sehe ihn an. Er sieht gut aus, wie ihm die Haare ins Gesicht fallen. Unwillkürlich wünsche ich mir, ihn noch einmal zu küssen. Er scheint dasselbe zu denken, denn er greift nach meiner Hand, zieht mich zu sich herunter und küsst mich. 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