Wenn du weinst von abgemeldet ([Vidoll] Jui und Rame sind normale Studenten und Freunde. Aber wer ist Rame wirklich? Wird Jui es rausfinden? Und was hat Ayano damit zu tun?) ================================================================================ Kapitel 5: Ein neuer Anfang? [edited] ------------------------------------- Soo~ Da bin ich wieder ^^° Das Kapitel kommt fast ohne Dialog aus, ich hoffe dass es trotzdem rein von den Gefühlen und dem allgemeinen Innenleben Juis nicht langweilig wird und nachvollziehbar ist >.< Kommis und Kritik wie immer erwünscht ^^ 5. Kapitel - Ein neuer Anfang? Ich rannte – egal wohin. Weg. Soweit es ging. So weit ich konnte. Die Nacht war noch feucht und eiskalter Wind blies mir ins Gesicht. Es kümmerte mich nicht. Nichts kümmerte mich. Für mich gab es nur Eines in diesem Moment. Flucht. Ich rannte über einen Spielplatz, welcher in dieser Nacht extrem unheimlich wirkte. Doch gerade weil ich mich beeilte von hier wegzukommen, achtete ich nicht auf den Boden. So stürzte ich im nassen Sand über meine eigenen Füße und fiel keuchend auf die Knie. Es dauerte eine Weile bis sich mein Herzschlag und meine Atmung wieder normalisiert hatten. Verzweifelt krallte ich meine Hände in den Sand und fühlte plötzlich, dass der Wind an einigen Stellen meines Gesichtes noch eisiger zu sein schien. Ich traute mich nicht, mich zu bewegen. So kniete ich weiterhin an derselben Stelle, auf allen Vieren. Verängstigt. Gebrochen. Ein Tropfen fiel glitzernd im Mondlicht zu Boden. Regnete es wieder? Noch ein Tropfen. Noch ein Tropfen, in dem sich das Mondlicht unheimlich und schön zugleich widerspiegelte. Nein. Es regnete nicht. Ich wusste, dass es nicht regnete. Selbst jetzt, wo ich das Gefühl hatte mein Körper wäre vollkommen taub. Als noch ein weiterer Tropfen herabfiel, fing ich ihn mit einer Hand auf. Zwischen den Sandkörnern auf meiner Haut konnte ich ihn sehen. Unschuldig. Rein. Und doch so schmerzerfüllt. Genau wie Ayano. Ich starrte den kleinen feuchten Fleck in meiner Handfläche an. Fast hätte ich behauptet man könnte endlos weit in ihn hineinsehen. Ja sogar das Leid und die Geschehnisse darin erkennen, die ihn verursacht hatten. Konnten andere Menschen so etwas in einer Träne sehen? Konnte man, wenn man es wollte, all das Leid sehen, dass sich hinter einer so kleinen Träne verbarg?! Erst in jenem Augenblick wurde mir wirklich bewusst, was vor sich ging. „Ich weine…“, flüsterte ich mit gebrochener Stimme in die Nacht. „…ich weine wirklich…“ Warum war ich so erstaunt darüber? Ich war doch auch nur ein ganz normaler Mensch. Ich verhielt mich als wäre es etwas Unnormales. Leise und zynisch lachte ich auf. Ja, Jui, Gefühle kann man halt nicht für alle Ewigkeit in sich einsperren! Das hätte dir klar sein müssen. Es war doch logisch, dass sie eines Tages wieder herausbrechen, egal mit wie vielen Schlössern du versuchst sie in dir einzuschließen. Deine Vergangenheit wird dich immer wieder einholen. Du kannst einfach nicht vor ihr weglaufen und du kannst sie auch nicht unvergessen machen. Genau wie deine wahren Gefühle. Du hast doch nicht etwa geglaubt, dass du wirklich so gefühlskalt bist, wie du immer vorgibst?! Du hast dich mit deiner eigenen Lüge getäuscht. Zögernd stand ich auf. Klopfte den Sand von meinen Händen und meiner Jeans. Langsam ging ich zu der Schaukel die nur ein paar Meter von mir entfernt war und setzte mich darauf. Früher als Kind war alles so viel einfacher gewesen. Ich wünschte mir ich könnte einfach wieder ein Kind sein, wo es das schlimmste auf der Welt war, das neue Spielzeug, dass man sich wünschte, nicht zu bekommen. Oder sich die Knie beim herumtollen aufzuschlagen. Ich seufzte. Wäre es doch heute genauso leicht wie damals. Innerhalb von wenigen Minuten war das schrecklichste Drama überstanden und man konnte wieder unbeschwert lachen. Wie gerne würde ich alles vergessen oder einfach darüber lachen können. Wie lange hatte ich schon nicht mehr von Herzen gelacht? Ich konnte mich nicht daran erinnern. Mein Leben kam mir plötzlich so armselig vor. Wieso gab ich immer vor jemand zu sein, der ich gar nicht wirklich war? Warum konnte ich nicht einfach ich selbst sein? Zu meinen Gefühlen stehen? Auch einmal verletzlich sein… Verletzlich sein… Ich schnaubte. Genau das bist du doch jetzt. Verletzlich wie ein kleines Kind. Wenigstens das hast du dir aus deiner Jugend bewahrt! Zielsicher zog ich meine Zigaretten aus meiner Hosentasche und zündete eine von ihnen an. Die kleinen Rauchwolken stiegen gen Himmel, wenn ich ausatmete. Mein Blick folgte ihnen und blieb irgendwann am Mond hängen. Der mich noch immer fies anzugrinsen schien. Mich immer noch mein Mitleid erregendes Selbst auszulachen schien. Von hier sah er genauso aus wie von Rames Zimmer. Was Rame jetzt wohl mit Ayano machte? Hör endlich auf über ihn nachzudenken! Du weißt doch, dass es viel einfacher wird, wenn du es verdrängst. Es hat doch immer geholfen. Verdrängen. Du hast schließlich dein halbes Leben verdrängt… Ich wandte meinen Blick abrupt vom Mond ab und sah auf meine Knie. Meine Hosen waren immer noch verdreckt und nass vom Sand waren sie außerdem. Rhythmisch zitterten meine Beine. Immer wieder derselbe Takt. Wie Musik. Musik. Meine Liebe zur Musik war es gewesen, die mein Leben zerstört hatte. Sie war es gewesen, die mich zu dem gemacht hatte, was ich heute war. Ein gefühlsloser arroganter Mensch. Wäre ich nur nie zu diesem Gesangslehrer gegangen… Die eigentliche Kälte, die mich zum zittern brachte, spürte ich nur wenig, obwohl ich wusste, dass ich eigentlich frieren müsste wie ein nasser Hund, wenn man die Reaktion meines Körpers bedachte. Ich sah von meinen Knien auf. In den umstehenden Häusern brannte nur in vereinzelten Fenstern Licht. Wie spät war es überhaupt? Aus meiner Hosentasche zog ich mein Handy hervor und sah auf die Uhr. 3:44. Die meisten Leute würden wohl schon schlafen oder noch draußen herumziehen und Party machen. Wehmütig dachte ich an die alten Zeiten, die wenn man es genau betrachtete nur ein paar Stunden zurück lagen. Die vielen Partys auf denen ich gewesen war. Das spielerische Flirten mit diversen Mädchen. Würde ich das jetzt ebenso empfinden können wie noch vor kurzer Zeit? Jetzt wo es so schien, als hätte mich meine Vergangenheit wieder eingeholt? Der Verrat geliebter Menschen. Plötzlich fiel mir eine Party wieder ein, auf der Rame und ich erst vor ungefähr einem Monat waren. Oberflächlich gesehen war sie eigentlich wie alle anderen gewesen. Ich verbrachte den Abend damit Mädchen schöne Augen zu machen und Rame saß quietschvergnügt neben mir und turtelte mit ein paar Männern herum. Wie immer. Doch wenn ich jetzt an den Abend dachte, erinnerte ich mich daran, dass sich unsere Blicke – so wie ich annahm durch Zufall – des Öfteren trafen. Ja, sogar, wenn er gerade jemanden küsste, sah er mich an. Ich hatte mich nicht selten beobachtet gefühlt und dann zu ihm geschaut, darum war es mir überhaupt aufgefallen. Hatte er etwa auf irgendeine Reaktion von mir gehofft? Ein Lächeln? Oder sogar Eifersucht? Es überraschte mich selbst, dass ich mir erst jetzt Gedanken darüber machte. Dass ich mir erst jetzt seiner auffallend vielen Blicke Gewahr wurde. Dass ich erst jetzt bemerkte wie oft er mich schon gedankenverloren angestarrt hatte. Trotz dessen war das nicht der Fakt warum mir ausgerechnet diese Party wieder eingefallen war und warum ich mich plötzlich so intensiv wieder an sie erinnerte. Der Grund war ein Gespräch. Vielleicht könnte man es auch einen kleinen Streit nennen. Denn auf dieser Party hatten wir über das Geschlecht einer anwesenden Person diskutiert, für die wir uns beide interessierten. Rame war sich sicher, dass es ein Junge war, während ich felsenfest davon überzeugt war, dass es sich lediglich um ein Mädchen mit sehr wenig Busen handelte. Sie war blond und ihre Kleidung war nicht eindeutig genug um sie sicher einem Geschlecht zuordnen zu können. Ich konnte mich noch an ihr Gesicht erinnern und es sah Ayano verdammt ähnlich. Zu ähnlich, wenn ich jetzt genauer darüber nachdachte. Das Gefühl, dass es damals wirklich Ayano war, konnte ich nicht mehr abschütteln. Im Geiste sah ich Ayanos gerötete und verzweifelte Augen wieder vor mir. Den Satz: „Es macht mir nichts aus zu sterben. Das macht vieles einfacher.“ in schwer leserlicher Schrift auf dem Papier. Wie passte das zusammen? Wie konnte man sich einerseits den Tod herbeisehnen und trotzdem aus Angst vor dem Tod so am Boden zerstört sein? Was hatte er erlebt? Warum war er innerlich so zerrissen? Und wieso war ich verdammt noch mal so feige und rannte davon? Weshalb konnte ich nicht so stark sein wie er? Weil es die Sache unglaublich einfach macht, gab ich mir selbst die Antwort. Diese Selbsterkenntnis stellte mich keinerlei zufrieden. Gut, ich war also der schweren Entscheidung entronnen, ob ich mit Rame schlafen sollte oder nicht. Und doch hatte ich mich eben nicht entschieden. Selbst das Davonrennen war keine Entscheidung. Nein, ich hatte nicht bewusst die Entscheidung getroffen Ayano seinem Schicksal zu überlassen. Nicht deswegen war ich gegangen. Ich war einfach nur geflohen. Nicht mehr und nicht weniger. Geflohen aus der Enge. Geflohen vor Rame, der Verzweiflung und meiner Angst. Dieselbe Angst, die ich vor einigen Jahren – fast 8 waren es mittlerweile – schon einmal gespürt hatte. Dieselbe Angst, die alle Erinnerungen wieder in mir erwachen ließ. Ich brauchte Ablenkung. Dringend. Nach Hause konnte ich jetzt nicht gehen. Meine Seele war viel zu aufgewühlt um jetzt zu schlafen oder zu vergessen. In hohem Bogen schnippte ich meine Kippe weg und fuhr daraufhin mit dem Schal über mein Gesicht um mögliche Spuren meiner Tränen zu verwischen. Selbst jetzt, wo ich eigentlich ein offenes Buch war, konnte ich mir nicht die Blöße geben, dass jemand sah wie sehr ich litt. Noch einmal klopfte ich meine Hosen, ganz besonders die Knie, ab, in der Hoffnung den gröbsten Dreck herunter zu bekommen, was mir mehr oder minder gut gelang. Tief durchatmend sog ich die kalte Luft in meine Lunge, um meinen Körper wieder etwas mit Leben zu füllen. Daraufhin lief ich ziellos herum, bis mir der Gedanke kam in der Nähe eine Bar oder ähnliches aufzusuchen. Als ich auf eine größere Straße kam, bemerkte ich, dass ich gar nicht so weit gelaufen war wie ich angenommen hatte. Dieser Teil der Stadt kam mir zwar nicht bekannt vor, aber da ich mich, wie ich an einem Schild erkannte, auf der Meiji-dori, einer der Hauptstraßen in Shinjuku, befand, konnte ich höchstens fünfzehn Minuten in normalem Laufschritt hinter mich gebracht haben. Der Vorteil war, dass die Straße, in der ich wohnte, von dieser abzweigte. So brauchte ich, wenn ich wieder nach Hause wollte dieser hier nur folgen. Was natürlich sehr hilfreich war, wenn ich – wie geplant – betrunken wieder aus der Bar heraustaumeln würde. Es verwunderte mich selbst, wie wenig ich außer der näheren Umgebung meiner Wohnung und der Innenstadt von Shinjuku kannte. Wahrscheinlich lag das daran, dass ich hier nicht viel zu tun hatte, weil ich immer direkt in die Innenstadt von Tokyo musste um zur Uni zu kommen und dort oder in Shibuya meine Abende verbrachte. Doch, dass war jetzt nicht wichtig, ich konnte die Gegend ja noch einmal besuchen und sie kennen lernen, wenn ich das Bedürfnis danach verspürte. Im Moment wollte ich nur eins: endlich eine Bar finden, um meinen Kummer und meine Selbstzweifel in Alkohol zu ertränken. Obwohl mir klar war, dass mir das nicht wirklich weiter helfen konnte, denn es würde nichts an den Geschehnissen ändern, führten mich meine Füße zielstrebig zum nächst besten Club. Ich zögerte kurz. War es wirklich gut, Ayano im Stich zu lassen und mich, statt ihm zu helfen, zu betrinken? Nein, war es nicht, aber ich brauche das jetzt. Ich will nicht daran denken. Ich will weder an Ayano, Rame noch meine Vergangenheit denken. Ich will einfach nur vergessen. Somit öffnete ich die Tür des Clubs und wurde von allen Angestellten mit einem „Irrashaimase“ bombardiert, worauf die Frage folgte ob ich allein war, was ich bejahte. Die Bedienung brachte mich zu einem freien Platz und nahm meine erste Bestellung entgegen. Ein doppelter Tequila. Die Bedienung sah mich etwas entgeistert von der Seite an, aber ein fordernder Blick von mir genügte um sie schließlich mit meiner Bestellung zum Barkeeper eilen zu sehen. Sollten sie doch denken was sie wollten. Dann fang ich eben gleich mit hartem Alkohol an. Lasst mich doch! Viel war um diese Zeit nicht mehr los. Nur ein paar betrunkene Pärchen oder ebenso betrunkene Cliquen saßen hier und da verstreut herum. Da hatte ich mir wohl gleich die richtige Bar für meine Stimmung ausgesucht. Es dauerte nicht lange und die Bedienung kehrte mit dem Tequila zurück und stellte ihn mit einem „Shitsurei shimasu“ auf meinen Tisch. Vorsichtig beäugte ich den Drink. Ich hatte vorher noch nie Tequila in meinem Leben getrunken, ich wusste nur eins, dass er sehr stark war. Zögerlich nippte ich daran um festzustellen, dass das Zeug nicht schmeckte. Trotz alledem schüttete ich es schließlich in mich hinein. Nach dem mein Körper mir den Geschmack mit einem heftigen Schütteln gedankt hatte, bestellte ich mir dann aber doch lieber eine Wodka Cola. Das konnte man wenigstens trinken. Der Tequila schmeckte zwar scheußlich, hatte aber genau den erwünschten Effekt. Alles was ich wollte war abschalten. Vergessen. Am liebsten für immer. Zum Glück breitete sich der Alkohol langsam wie ein Schleier in meinem Kopf aus. Doch vergessen konnte ich trotzdem noch nicht. Die ganze Zeit sah ich Ayano vor mir. Würde Rame warten bis Ayano wieder wach war und ihn dann quälen? Würde er über ihn herfallen und vergewaltigen? Egal ob bei Bewusstsein oder nicht? Oder wollte er eigentlich überhaupt nichts von Ayano und ‚beseitigt’ ihn einfach, weil er ihn nicht mehr braucht? War Ayano einfach nur ein Mittel für Rame gewesen, um mich rumzukriegen? Wenn ja, dann hatte er wirklich völlig entrückte Vorstellungen davon, wie man ein Herz für sich gewinnt. Ich war mir nicht mehr sicher, ob Rame es wirklich auf Ayano abgesehen hatte. Langsam zweifelte ich daran. Immer wieder stellte sich mir die Frage ob es wirklich Ayano war, über den wir bei der Party gesprochen hatten. Wenn er es wirklich gewesen war, dann konnte das alles doch kein Zufall mehr sein. So wie er zugerichtet wurde, konnte er doch nun wirklich kein Stricher sein. Kein Zuhälter würde eins seiner Schäfchen so zurichten, selbst wenn sie nicht das machten was sie sollten. So würde er ja für eine ganze Weile ausfallen und kein Geld für sein Herrchen verdienen. Bei diesem Gedanken schüttelte es mich. Wie konnte man Menschen nur so für seine Zwecke missbrauchen? Mittlerweile trank ich meinen zweiten Whiskey nachdem ich nach zwei Wodka Cola meine Meinung wieder geändert hatte und umgestiegen war. Der Alkohol hatte seine Wirkung in keinster Weise verfehlt. Ich hatte stark zu kämpfen auf dem kleinen Stuhl im Gleichgewicht zu bleiben. Am liebsten hätte ich mich einfach in irgendeine Ecke gelegt und geschlafen. Und schlecht war mir nun auch. Scheiß Alkohol. Ich kippte den letzten Whiskey hinter und wankte nach vorn zum Tresen um dem Barkeeper zu sagen – na ja vielleicht war es auch eher ein lallen, ich weiß es nicht –, dass ich zahlen wollte. Mehr würde ich heute nicht mehr hinter bekommen, außerdem musste ich auch noch irgendwie nach Hause kommen. Es gehörte nicht gerade zu einem meiner Lebensziele, in irgendeiner verdreckten Müllecke aufzuwachen. Ohne nachzudenken wollte ich nach meiner Tasche greifen, doch meine Hand landete im Nichts. Wo war meine Tasche? Ich suchte alles in meiner Umgebung ab. Auch an meinem Tisch durchsuchte ich alle Ecken. Nichts. Wann hatte ich sie zum letzten Mal gesehen? Bei Rame! Schoss es mir wie ein Blitzschlag durch den Kopf. Mit einem Mal überkam mich die Übelkeit. Ich stolperte zum Tresen um mich kurz zu entschuldigen und stürzte nach draußen. An einen Sakurabaum, gleich vor der Bar, gestützt übergab ich mich dreimal. Ich hatte sie offensichtlich bei Rame vergessen. Das hieß ich musste zurück zu seiner Wohnung gehen, um sie zu holen. Ich musste Rame erneut ins Gesicht schauen… Plötzlich tippte mir jemand auf die Schulter. Bevor ich mich umdrehte zog ich ein Taschentuch aus meiner Hosentasche, um mir den Mund und das Gesicht abzuwischen. Ja, egal in welcher Situation, ich war eitel. Ich konnte mir vor niemandem die Blöße geben. Ich musste immer so perfekt wie möglich aussehen. Als ich mich wieder gerichtet hatte, drehte ich mich schließlich um und sah einem Bär von Typ ins Gesicht, der mich wütend anstarrend vor mir stand. „Kannst du nicht aufpassen wo du hinrennst, du kleine Schwuchtel?!“ Hatte ich ihn angerempelt als ich raus gerannt war? Ich hatte keine Ahnung. „Erstmal wieder fein machen… Ts! Mach’s Maul auf! Hältst dich wohl für was besseres, hä?!“ Da ich absolut keine Lust auf sinnlose Streitgespräche hatte, entschuldigte ich mich einfach kurz und bündig. Doch der Typ schien damit ganz und gar nicht zufrieden zu sein. Denn als ich an ihm vorbei gehen wollte, zog er mich grob zurück. Fast wäre ich dabei nach hinten umgefallen, aber seine Hand hatte sich fest um meinen Unterarm gelegt, so dass er mich quasi daran hinderte umzufallen. „Und du denkst das reicht jetzt, oder was? Eine kleine Entschuldigung. Ich glaub du brauchst mal wieder ne ordentliche Abreibung!“ „Lass mich in Ruhe.“ Ich versuchte mich erneut an ihm vorbei zu drängeln. „Vergiss das mal, Kleiner. Meine Jacke ist jetzt mit deinem Dreck besudelt, also hast du sie gefälligst auch zu bezahlen!“ Mein Blick wanderte über seine Jacke. Irgendein Designerteil. „Ich seh keinen Dreck.“ Kaum hatte ich das gesagt landete seine Faust in meinem Magen. Mein Körper sackte zusammen und ich musste mich ein weiteres mal übergeben. Ich konnte mich wohl glücklich schätzen, dass ich meinen Mageninhalt nicht über seine Schuhe verteilt hatte, dann hätte ich mich wohl am nächsten Morgen im Krankenhaus wieder gefunden. Trotzdem packte er ohne Rücksicht meine Haare und zog meinen Kopf nach oben. „Siehst du ihn jetzt, du Penner?“ Ich gab keine Antwort, was er offensichtlich als Aufforderung ansah mich nach oben zu ziehen, nur um mir noch einen Schlag in die Magengegend zu verpassen. Diesmal war ich jedoch auf den Schlag vorbereitet und konnte ihn halbwegs abwehren, in dem ich seine Hand weg schlug. „Könnt ihr euch nicht einfach verpissen und mich in Ruhe lassen? Ich hab schon genug Ärger!“, scheiße, wieso musste ich das sagen? „Oh hat die Schwuchtel Probleme? Das tut mir aber leid!... Los Jungs wir machen ihm das Leben noch ein bisschen angenehmer!“ Die beiden Anderen lachten und ich wusste genau was jetzt kommen würde. Trotzdem versuchte ich gar nicht erst wegzurennen. Ich war heute schon zu oft vor meinen Problemen davongerannt. Sie ließen ziemlich schnell wieder von mir ab. Ich hatte mich einfach in einer schützenden Pose auf dem Boden zusammengerollt, als sie begannen auf mich einzuprügeln, und ließ sie machen. Offensichtlich war ihnen das zu langweilig, da ich mich nicht wehrte und genauso wenig irgendeinen Mucks von mir gab. Sie hatten sich wohl gewünscht ich würde sie um Gnade anbetteln, schreien oder weinen. Ich glaube nicht, dass sie wirklich erwartet hatten ich würde mich ernsthaft wehren, ich hatte keinerlei Chance gegen sie, warum also meine Kraft verschwenden? So ließen sie mich einfach liegen. Nahmen nicht einmal mein Geld, das in meiner Hosentasche war. Alles was sie wollten war Stress machen und irgendjemanden verprügeln. Arschlöcher. Gerade als ich mich aufrappeln wollte, kam der Barkeeper auf mich zu. Im ersten Moment nahm ich an er wolle mir aufhelfen, doch er griff nur in meine Hosentasche und zog sechs 1.000 Yen Scheine aus meiner Geldbörse. „Du hast vergessen zu bezahlen. Der Rest ist dafür deine Kotze hier wegzuwischen.“ Damit verschwand er wieder in der Bar. Ich sah ihm noch verwirrt hinterher. Was hatte ich ihm denn getan, dass er so unfreundlich war, so ganz entgegen der japanischen Natur? Nie hatte mich jemand schief angesehen, nur weil ich betrunken war, oder war ausfällig geworden. Verquere Welt. Unbeholfen kam ich wieder auf die Füße. Mein Rücken schmerzte von den Tritten der Schlägergang, mein Magen drehte sich auf Grund des Alkohols und die kleine Platzwunde, die noch von meinem letzten Aufeinandertreffen mit einem eifersüchtigen Freund her rührte, war wieder aufgeplatzt. Wieder musste mein Schal herhalten um Dreck und Blut aus meinem Gesicht zu wischen. Zum Glück gab es hier keine größeren Schaufenster, denn ich verspürte in keinster Weise den Wunsch mich jetzt zu sehen. Mich so am Boden zu sehen. Enttäuscht, wütend, verprügelt, verzweifelt, verängstigt… Denn das was ich jetzt im Spiegel sehen würde, war mein wahres Ich. Der wahre Jui, den ich so lange in mir eingesperrt hatte. Langsam schlenderte ich in Richtung meiner Wohnung, als mir wieder einfiel, dass ich meine Tasche bei Rame vergessen hatte. Scheiße. Mein Wohnungsschlüssel war da drin. Ich durchsuchte fieberhaft jede noch so klitzekleine Tasche, die sich an meiner Kleidung befand, um sicher zu gehen, dass ich ihn nicht doch irgendwo bei mir hatte. Fehlanzeige. Dann blieb mir wohl nichts anderes übrig als den Schlüsseldienst zu rufen. Aber trotz alledem hatte Rame immer noch meinen Wohnungsschlüssel. Das war mir nicht geheuer. Ich kannte den Rame, von dem ich geflüchtet war, nicht. Was würde er damit tun? Würde er meine Tasche einfach bei mir abgeben, als wäre nichts passiert? Würde er vielleicht heimlich in meine Wohnung einbrechen – ok es war dann wohl kein wirkliches Einbrechen – und meine Sachen durchwühlen? Nein, wieso sollte er das tun?! Wenn er einbrach dann vielleicht eher, weil er plötzlich Lust aufs Morden bekommen hatte und ich ein leichtes neues Opfer wäre. In der Nacht im Schlaf überrascht. Mir lief es eiskalt den Rücken hinab bei diesem Gedanken. Leider traute ich ihm mittlerweile alles zu. Ich hatte keine Lust zurück zu Rame zu gehen um meinen Schlüssel zu holen. Nur damit ich nicht sämtliche Schlösser auswechseln lassen müsste, um nachts ruhig schlafen zu können. Ich wollte Rame nie wieder sehen. Doch damit ich ihn nie wieder in meinem ganzen Leben sehen musste, müsste ich wohl umziehen. In eine andere Stadt. Vielleicht sogar in ein anderes Land. Wir sahen uns schließlich jeden Tag in der Uni, ob wir nun befreundet waren oder nicht. Ich könnte ihn auch einfach umbringen, schoss es mir durch den Kopf. Für ihn war es doch auch nicht schwer in Erwägung zu ziehen Ayano umzubringen. Nein. Ich schüttelte den Kopf. Du wirst nicht auf sein Niveau herabsteigen. Geh zu ihm. Hol deine Tasche und verschwinde wieder. Dann kannst du ihn sogar fragen ob es Ayano war, der damals auf der Party war. Dann kannst du ihm ein Sayonara forever an den Kopf knallen. Ich hatte mich entschieden. Genau das würde ich tun. So konnte ich noch einige Fragen auflösen, bevor ich mich endgültig von Rame distanzierte. Vielleicht würde ich wirklich umziehen, denn das würde alles viel einfacher machen, auch wenn ich dann meinen Platz an der Uni aufgeben musste. Aber was wenn er mich diesmal nicht so einfach gehen lässt? Was wenn er Ayano etwas angetan hatte und ich es sehen würde? Könnte er wirklich einen Menschen töten? Ja, er war ein ganz Anderer, als ich immer angenommen hatte. Aber konnte er das im Ernst? Also schlug ich den Weg zurück zu Rames Wohnung ein. Das mulmige Gefühl, dass ich trotz meiner Entschlossenheit verspürte, konnte ich jedoch nicht verdrängen. Es wollte mich einfach nicht loslassen. Wer wusste schon was jetzt passieren würde? Es könnte sein, dass ich einfach zu ihm ging, das holte weswegen ich gekommen war, meine Fragen stellte und wieder verschwand. Ja, vielleicht war er sogar nett zu mir. Gespielt nett natürlich. Oder es passierte etwas ganz anderes. Etwas worüber ich gar nicht nachdenken wollte. Was ich mir nicht ausmalen konnte. Wenn ich Glück hatte, gab er mir freiwillig die Tasche und ich musste die Wohnung noch nicht einmal betreten. So würde ich Ayano nicht noch einmal sehen. So könnte ich zwar nicht beruhigt, aber zumindest in besserer Verfassung nach Hause gehen, als wenn ich noch einmal Ayanos gequälten Körper auf Rames Bett liegen sehen müsste. Wenn er noch dort war… Die Straßen waren für Shinjuku Angst einflößend leer. Ich hatte den Eindruck, dass die ganze Welt sich entsprechend der Ereignisse veränderte. Alles war plötzlich gruselig. Seltsame Schatten, die auftauchten und so schnell wieder verschwunden waren wie sie aufgetaucht waren. Geräusche, wie das Zwitschern verschiedener Vogelarten, die mir vorher nie aufgefallen waren. Das Heulen des Windes, der durch die vielen kleinen Nischen der Häuser pfiff. Oder, dass trotz der Neon-Werbung und der Straßenleuchten alles düster wirkte. Überall waren verwinkelte Ecken und Gassen. Waren die schon immer da gewesen? Waren sie schon immer so dunkel gewesen? Und waren schon immer seltsame Geräusche oder unheimliche Lichter aus ihnen hervor gedrungen? Mittlerweile konnte ich das Haus schon sehen, in dem Rame wohnte. In der Stube und der Küche brannte noch immer Licht. Also war er auf jeden Fall noch wach. Wartete er auf mich? Wartete er darauf, dass ich getrieben von meinem Mitleid und schlechtem Gewissen zurückkommen würde? Oder zumindest wegen meiner Tasche? Plötzlich sah ich seine Silhouette am Fenster. Er verweilte einen Moment und verschwand dann wieder. Ob er mich gesehen hatte? Das Unwohlsein kroch immer stärker durch meine Knochen, doch ich musste zu ihm gehen, ob ich wollte oder nicht. Ich musste meinen Schlüssel zurückholen. Augen zu und durch! Mit zitternden Fingern – die nicht nur auf Grund der Kälte so zitterten – drückte ich auf den Klingelknopf. Mein Herz schlug mir vor Nervosität bis zum Hals. Nach ein paar Sekunden ertönte das typische Summen, welches mir verdeutlichte, dass ich die Tür öffnen konnte. Er wusste ziemlich offensichtlich, dass ich es war. Er hatte ja nicht einmal gefragt, wer da war. Also hatte er mich wirklich gesehen. Wie oft er wohl in den letzten Stunden auf die Straße geschaut hatte? Als ich in Rames Etage ankam, sah ich schon von weitem, dass er in der Tür stand und auf mich wartete. „Ich wusste, dass du zurückkommst!“, sagte er mit einem sehr zufriedenen und selbstsicheren Gesichtsausdruck. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)