Der Untergang von Emeranea von CAMIR (Ein Augenzeugenbericht) ================================================================================ Kapitel 2: Kapitel 2 - Yemathea ------------------------------- Kapitel 2 Yemathea Die danach folgenden Jahre waren von wenigen Veränderungen geprägt. Ich half meinen Eltern im Sommer bei der Ernte und auch sonst bei der Haltung des Hofes. Des Abends schlich ich mich aus dem Haus, um mich von Sabeth unterweisen zu lassen, da ich nicht wollte, dass irgendjemand davon etwas erfuhr. Perris wurde von seinem Vater gezwungen bei einem Schmied des Nachbarortes eine Lehre anzufangen und genau das war unser Glück. So konnten wir uns endlich wieder ungestört und unbeobachtet treffen und ich nutzte jede Gelegenheit dazu, auch wenn dies bedeutete, einen über 10 Kilometer langen Weg auf mich zu nehmen. Jedenfalls wuchs ich von einem Kind zu einer jungen Frau von 16 Sommern heran. Die Wanderungen zu Perris zollten meinem Körper ihren Tribut, denn über meine Figur konnte ich wirklich nicht klagen, auch wenn ich nun mehr denn je das Gefühl hatte, ein Stück zu klein zu sein. Dennoch – seit einiger Zeit konnte ich die jungen Männer des Dorfes dabei ertappen, wie sie mir hinterher sahen und dies erfüllte mich mit einiger Zufriedenheit, auch wenn mich keiner von ihnen sonderlich interessierte. Selbst Kathal, der sporadische Besucher der Familie war angenehm überrascht, wie ich mich entwickelt hatte. Ein knappes Jahr nach seinem letzten Besuch war der alte König tatsächlich gestorben und wie erwartet war sein Neffe Rhodius der Nachfolger geworden. Auch wenn dies nun schon wieder drei Jahre her war, wusste das Volk so gut wie nichts von seinem neuen Monarchen. Er schien sich sehr bedeckt zu halten. Aufgrund des Wechsels in der Thronfolge blieben auch Kathals Visiten zwei Jahre aus, was seine Überraschung erklärte, als er mich danach wiedersah. Auch wenn er uns danach wieder öfter besuchen kam, hatte er kaum Neuigkeiten, Rhodius betreffend. Politisch schien er wenig falsch zu machen, doch etwas anderes machte Kathal Sorgen. In Andrias Armenviertel war eine mysteriöse Seuche ausgebrochen, gegen die es bisher kein Heilmittel zu geben schien. Die Kleriker Temeths versuchten zwar ihr Bestes, doch schien es bisher keine Chance auf Heilung zu geben, wenn man erkrankt war. Zudem hatte sich eine andere Vereinigung einen Namen in der Stadt gemacht. Sie wurden Weißkutten gemacht, da ihr wahrer Name nicht bekannt war, und arbeiteten, so wie es aussah, gemeinsam mit den Priestern an einer Möglichkeit, die Seuche aufzuhalten. Dies war das erste Mal, dass ich vom Kriechenden Tod hörte – nichts ahnend, welche Veränderung in meinem Leben damit zusammenhängen würden – doch ich maß der Geschichte keine große Bedeutung bei. In Wanas waren wir solchen Katastrophen immer relativ geschützt. Was meine Ausbildung bei Sabeth anging, so hatte ich in der vergangenen Zeit doch einige Fortschritte gemacht. Ich war nun in der Lage, meine Kräfte zu kontrollieren und sie bei Bedarf auch einzusetzen. Zu meinen neu erworbenen Fähigkeiten gehörten das Heilen von Verletzungen und das Bewegen von Gegenständen, nur mit der Kraft des Geistes. Manchmal, jedoch nicht immer, gelang es mir, eine Kerze per Gedankenkraft anzuzünden. Da ich der Heilung jedoch die größte Bedeutung zumaß, kümmerte ich mich um die anderen Dinge kaum und Sabeth insistierte auch nicht darauf. Sie war eher darauf bedacht, vorhandenes Potential zu vergrößern, als nicht vorhandenes zu erschaffen – und ich war ihr auch dankbar dafür. Trotzdem wurde sie nicht müde, mir zu erklären, ich solle meine Kräfte nicht unterschätzen und auf das beschränken, was ich kontrollieren könne. Ich sei zu viel mehr fähig, wenn es darauf ankäme. Darauf ließ ich es dann weitestgehend beruhen. Ich war mir sicher, es würde niemals ‚darauf ankommen’... dazu war die Idylle in Wanas einfach viel zu trügerisch. Eines Abends sollte sich jedoch alles ändern... Wie gewöhnlich wartete ich, bis meine Familie schlafen gegangen war, bevor ich leise aus dem Fenster kletterte, um mich auf den Weg zu Sabeth zu machen. Dieser Vorgang war inzwischen zu einer solchen Routine für mich geworden, dass ich blind jede Stelle zum Festhalten finden konnte, die ich brauchte, um wohlbehalten auf dem Boden anzugelangen. Wieder einmal hatte ich niemanden geweckt, stellte ich zufrieden fest und entschwand in die Nacht. In Sabeths Hütte brannte, wie immer Licht und natürlich hatte sie auf mich gewartet. Ich schlüpfte hinein und schloss die Tür hinter mir. Sowie ich mich an den Tisch setzen wollte, fiel mein Blick auf ihr Gesicht und ich erstarrte. Sie wirkte verängstigt und bedrückt. „Sabeth, stimmt etwas nicht?“ Besorgt blickte ich sie an und sie versuchte zu lächeln. „Du bist reifer geworden, Arianne, fast schon eine Frau. Du bist nun alt genug, die Wahrheit zu erfahren, bevor es zu spät ist.“ Die Wahrheit! Ich erschauerte und dachte an jenen Abend vor fünf Jahren zurück, als ich ihr zum ersten Mal begegnet war. Jetzt erinnerte ich mich daran, wie sie mir auswich, mit der Begründung ich sei zu jung. „Wovor sollte es zu spät sein?“ „Ich bin nicht mehr die Jüngste, mein Kind. Und die Anzeichen verdichten sich, dass unser Land vor der größten Bedrohung seit langem steht. Es gibt unschöne Gerüchte aus der Hauptstadt.“ Auch wenn es mich jedes Mal auf Neue erstaunte, wie es ihr gelang, trotz ihrer Zurückgezogenheit, so viele Dinge, auch Neuigkeiten zu erfahren, nickte ich nur stumm. „Die Seuche im Armenviertel, ich habe davon gehört. Aber die Priester Temeths tun ihr Bestes...“ „Die Priester!“ Sie lachte verächtlich und schüttelte dann den Kopf. „Als ob sie nicht an der ganzen Misere erst schuld wären.“ „Das kann doch nicht sein! Ihre Aufgabe ist es doch, das Volk zu schützen!“ rief ich entrüstet. Sie wies mich an, mich hinzusetzen und als dem nachgekommen war, trat sie einen Schritt auf mich zu. Sie hob ihr Kleid hoch und zum ersten Mal erblickte ihr, das was darunter lag. Ihr rechtes Bein sah aus, als wäre es irgendwann einmal mehrfach gebrochen gewesen und beide waren mit Narben übersät. Am verkrüppelten Bein erkannte ich, war der Fuß nach innen gedreht, was ihr Humpeln erklärte. „Sieh es dir nur gut an, mein Kind, denn dies ist das Werk deiner hochgeschätzten Priester Temeths.“ Ich erschrak. „Verstehst du nun, warum ich dich von ihnen fernhalten und deine Ausbildung selbst in die Hand nehmen wollte?“ Ich schwieg einen Augenblick, unfähig zu sprechen und nickte dann zögernd. Noch immer konnte ich es nicht fassen: Unsere hochgeschätzten Priester, die Verbindung zwischen Temeth und uns, vereidigte Beschützer des Volkes: wie konnten sie zu so etwas fähig sein? Waren sie nicht für Heilung und Gerechtigkeit zuständig? Bedächtig legte sie ihre Hand auf meine Schulter und lächelte schwach. „Ich kann nachvollziehen, was du nun empfindest, Kind. Als ich in deinem Alter war, erging es mir ähnlich. Ich war sehr jung, sogar noch jünger als du, als ich meine Kräfte entdeckte. Wie du vielleicht weißt, stamme ich auch nicht von hier. Ich stamme aus Hohenfels, der Stadt der Händler. Du siehst, ich befinde mich nun sehr weit weg von meiner Heimat Entaria. Meine Eltern waren recht wohlhabende Kaufleute und der gesellschaftlichen Aufstieg, der damit verbunden war, sollte ich tatsächlich eine Adeptin sein, bewegten sie, kurz nach der Entdeckung meiner Kräfte, dazu, mich zum örtlichen Priester zu bringen. Ich erinnere mich noch gut an ihn. Sein Name war Fenric, ein düsterer, verschlossener Mann. Ich leugne nicht, dass er viel für die Bevölkerung von Hohenfels getan hat und immer zur Stelle war, wenn es irgendwo Krankheit und Leid gab, doch sonst gab es wenig gesellschaftliche Anlässe, zu denen man ihm begegnet wäre. Er lebte recht zurückgezogen in der kleinen, dem Tempel zugehörigen Hütte. Als man mich zu ihm brachte, war ich genauso aufgeregt, wie meine Eltern. Die Kleriker waren gesellschaftlich hoch geachtet und der Gedanke, eines Tages zu ihnen gehören zu können, beflügelte mich, genau wie er dich beflügelte. Natürlich gelobte Fenric, für meine Ausbildung zu sorgen – es ist dem Klerus ein Graus, zu wissen, dass es irgendwo von Temeth Gesegnete gibt, die nicht unter seiner Fuchtel stehen, denn dies könnte ja eine Verminderung ihrer Macht darstellen. Und er hielt sein Versprechen. Wenige Tage später schon, musste ich meine Sachen packen, um mich auf den Weg nach Andria zu machen, denn nur dort werden Priester ausgebildet, wie du vielleicht weißt. Auch auf dem Weg dorthin war ich noch voll von Aufregung auf das neue Leben und diejenigen die mich begleiteten, teilten meine Freude ebenso. Doch wie bitter sollte ich enttäuscht werden. Die Milde und Nachsichtigkeit, die sie bei ihren Schutzbefohlenen vielleicht walten lassen, galten nicht für die Novizen und Novizinnen, zu denen ich nun gehörte. Wer sich nicht an die Anweisungen hielt und den aufgetragenen Aufgaben nicht nachkommen konnte, wurde hart bestraft, sehr hart. Von Prügeln, über das Unterwasserhalten des Kopfes, bis hin zu Essens- und Schlafentzug gab es alles. Viele der Novizen waren aufgrund ihrer noch nicht voll entwickelten Kräfte nicht in der Lage, die Aufgaben zu lösen und sie alle traf unerbittlich das Schwert der Disziplin. Auch ich gehörte dazu – das zertrümmerte Bein, das du hier siehst, zog ich mir bei einer dieser Disziplinarmaßnahmen zu. Aber das war nicht alles – ich hatte das Gefühl, die Priester waren nicht alle so heilig, wie sie es gerne wären. Irgendwie waren sie in Machenschaften verstrickt, die sich kaum mit dem decken konnten, was sie eigentlich gelobten und es würde mich nicht wundern, wenn sie einige der Tode selbst verursacht hatten, nur um zu sehen, wozu ihre Fähigkeiten denn eigentlich in der Lage waren. Nicht jeder, der von Temeth gesegnet ist, ist automatisch gut und der damalige Hohepriester war es ganz sicher nicht. Inzwischen ist er gestorben und wie sein Nachfolger ist, kann ich dir leider nicht mehr beantworten. Ich suchte nach einer Gelegenheit, zu entkommen, da ich die Scheinheiligkeit und die Gewalt nicht mehr ertrug, und als sie sich mir bot, floh ich mit zwei anderen Novizen. Noch Monate nach unserer Flucht wurde das Land nach uns durchkämmt und wir mussten uns versteckt halten. Meine Gefährten wurden schließlich gefangen – und was mit ihnen geschah entzieht sich meiner Kenntnis. Mir gelang es nur, durch viel Glück zu fliehen und unterzutauchen, wobei sich das ländliche Wanas förmlich anbot. Ich wusste, nach Hause zurückkehren konnte ich nicht, denn erstens würden sie mich dort ganz sicher suchen und zweitens wollte ich meinen Eltern die Schande nicht antun. Jedenfalls gelang es mir, in meiner Zeit hier, meine Kräfte weiter auszubilden, als es schon geschehen war – ich würde lügen, behauptete ich, in meiner Zeit als Novizin wäre mir in dieser Hinsicht nichts beigebracht worden – und nach jungen Menschen mit den gleichen Kräften Ausschau zu halten, um ihnen ein ähnliches Schicksal zu ersparen. Du bist die erste, bei der es mir gelungen ist und ich bin froh darum. Ich weiß, in der steckt mehr, als du jemals erkennen kannst und es wäre entsetzlich gewesen, wärest du in ihre Mühlen geraten.“ Als Sabeth ihre Erzählung geendet hatte, war es erst einmal totenstill in der Hütte. Ich war immer noch sprachlos, denn wie sie sagte, war damit fast alles, an das ich einmal geglaubt hatte, dahin. Ich wusste, ich war ihr zu Dank verpflichtet, denn so unglaubwürdig sich ihre Geschichte im Vergleich zu den Dingen, die man über die Priester erfuhr, auch anhörte – ich wusste sie war wahr. An jenem Abend schwor ich mir, dass ich niemals in dieses Räderwerk geraten sollte. Es war meine eigene Unüberlegtheit, die schließlich alles zunichte machen sollte... Seit jenem Abend in Sabeths Hütte waren auch schon wieder ein paar Wochen vergangen und langsam wichen die milden Blüten und Knospen des Frühlings der Hitze des Sommers. Ich hatte mich verändert, was meiner Umwelt nicht verborgen geblieben war, so gut ich auch versuchte es hinter einer Fassade von Gleichgültigkeit und Patzigkeit zu verbergen. Noch immer musste ich an Sabeths Geschichte denken, die mein Weltbild so nachhaltig zerstört hatte, dass es wohl noch einige Zeit dauerte, bis ich darüber hinwegkam. Die Priester Temeths die hin und wieder das Dorf besuchten, konnte ich nun nicht mehr mit kindlicher Ehrfurcht ansehen. Voller Abscheu wandte ich mich ab, als ich sie kommen und auf das Wirtshaus zusteuern sah. Wer wusste, was sie im Schilde führten? Ich ahnte, dass sie die Kraft besaßen, ihresgleichen von nicht Gesegneten zu unterscheiden, was ein weiterer Grund war, mich von ihnen fernzuhalten. Selbst Kathal stand ich inzwischen misstrauischer gegenüber, als bei unseren früheren Begegnungen, denn wieder einmal war er bei uns zu Gast. Niemand wusste wirklich etwas über ihn... also wer war er? Das Risiko war einfach zu groß... Vielleicht ahnte er ebenfalls von meinen Kräften? Ich musste vorsichtig sein... ... und ich verabscheute mich dafür. Mit jedem Tag wuchs mein Misstrauen gegenüber meiner Umwelt, die ich ja gerade durch mein abweisendes Betragen darauf aufmerksam machte, dass etwas mit mir nicht stimmte, aber ich hatte solche Angst vor einem ähnlichen Schicksal wie dem Sabeths... Ich verstand nun, weswegen sie sich mit diesen Enthüllungen Zeit gelassen hatte – unvorstellbar, was dies in mir ausgelöst hätte, als ich noch jünger gewesen war. Ich wusste, dieser Zustand permanenter Angst und wachsenden Misstrauens war auf Dauer nicht tragbar, doch ich traute mich nicht, mit jemandem darüber zu reden und heuchelte stattdessen einen anderen Grund für mein Verhalten vor: Liebeskummer. Nachdem sie endlich eine Erklärung für meine Stimmungsschwankungen hatten, hörten sie auf, weiter in mich zu dringen und auch wenn ich nach wie vor mit meinen Gefühlen alleine gelassen war, hatte ich wenigstens ihre Neugierde nicht mehr zu fürchten. Es schien ihnen allen klar zu sein, dass Perris die Ursache dafür war und mir war es recht, verbrachte ich doch mehr Zeit denn je bei ihm, seit er seine Lehre beendet hatte. Auch wenn ich ihm niemals, niemals größere Gefühle als Freundschaft entgegengebracht hatte, war dies umgekehrt eine andere Sache... Und dann geschah das Unglück... Es war ein lauer Abend kurz nach Sommeranfang. Ich saß am Ufer des Flusses, und beobachtete das fließende Wasser, wie es in der Ferne verschwand. Manchmal verirrten sich ein paar besonders mutige Fische an die Wasseroberfläche, was leichte Kreise im Wasser entstehen ließ, die sofort von der Strömung verschluckt wurden. Eine Trauerweide bot mir Schutz vor der doch noch grellen Abendsonne sowie einen Platz zum Anlehnen und ich hörte schon die Grillen zirpen. Dieser Platz war Perris’ und mein Geheimversteck gewesen, als wir noch Kinder gewesen waren... Es erschien so lange zurück, obwohl es doch erst fünf Jahre waren... Gelegentlich kam ich noch hierher, wenn ich alleine sein wollte, um nachzudenken, oder bei Sabeth Gelerntes in Ruhe auszuprobieren und es kam sehr selten vor, dass ich gestört wurde. Die meisten anderen Kinder spielten eher flussaufwärts und auch ihre am Fischen interessierten Eltern und älteren Geschwister kannten bessere Fischgründe als diesen Platz. Raschelndes Gras ließ mich aus meinen Gedanken hochschrecken und mich langsam umdrehen. Gegen die Abendsonne erkannte ich vertraute Schemen, die sich tatsächlich als Perris herausstellten. Wieder einmal wirkte er traurig. Bevor ich ihn fragen konnte, was er hier mache, hatte er sich schon neben mich gekauert. „Ich ahnte, ich würde dich hier finden Ri...“ „Ist alles in Ordnung? Du wirkst so bedrückt, wie schon lange nicht mehr...“ Erinnerungen an meinen letzten Versuch ihn trösten und dessen Ende flackerten in mir hoch. „Ich werde von hier fortgehen, Ri... Meine Lehre ist beendet, aber das genügt Vater nicht. Er hat gesagt, bevor er in mir einen richtigen Mann sehen kann, muss ich zu den Soldaten. Er hat mit einem Kommandanten in der Taverne gesprochen, der vor längerer Zeit auf der Durchreise war – die Garde des Königs sucht noch Männer. Ich soll zu einem Rekruten werden... und wenn das geschieht, weiß ich nicht wann ich je wieder zurückkommen kann. Du weißt ich kann mich meinem Vater nicht widersetzen, konnte es nie und kann es auch jetzt nicht. Ich werde mich wohl fügen...“ Ich zitterte und sagte lange Zeit kein Wort. Erst nahm mir Sabeth mein Weltbild und nun Harian meinen besten Freund und zwar schon zum zweiten Mal, wenn auch dieses Mal für immer, so wie es schien. „Wie lange weißt du das schon?“ brachte ich schließlich heraus. „Schon ein paar Monate, aber ich traute mich nie es dir zu sagen, aus Angst, es würde dich so sehr treffen, wie das letzte Mal.“ „Ich verstehe“, erwiderte ich tonlos und bemühte mich, meine Wut und meine Tränen zurückzuhalten. Es war einfach nicht richtig. Die Tatsache, dass Perris sich genauso, wenn nicht noch schlimmer fühlte, machte es nicht einfacher. „Arianne... du bist neben meiner Mutter, der einzige Mensch, der mir hier wirklich etwas bedeutet. Du bist meine Freundin seit meinen Kindertagen und warst diejenige die immer zu mir gehalten hat. Du warst stark und mutig, wenn ich schwach und ängstlich war... und auch nachdem mein Vater versucht hat, uns zu trennen, hast du trotzdem einen Weg gefunden, wie wir uns treffen konnten. Ich bewundere dich für all das, was du bist...“ Ich nickte nur und langsam liefen mir die Tränen die Wangen hinunter. „Ich werde dich vermissen...“ „Und ich werde dich vermissen, schöne Ri. Sie alle haben sich nach dir umgesehen und nie hast du sie beachtet, mir zuliebe. Du weißt, was ich für dich empfinde...“ Er umarmte mich und ich ließ es geschehen. Ja, ich wusste, was er für mich empfand... Das hatte es immer schwer für mich gemacht, da ich seine Gefühle nicht so erwiderte. Ich liebte ihn wohl wie einen Bruder, aber nicht wie einen Partner. Behutsam legte ich meine Hände auf seine Arme und so harrten wir einige Zeit aus, stumm, nur in der Nähe des anderen geborgen, jeder wissend, dass es nach dem Abschied kein Wiedersehen geben würde. In diesem Augenblick fällte ich meine Entscheidung... „Perris“, flüsterte ich, „ich möchte dir etwas schenken, damit du mich niemals vergisst. Nimm es von mir als Freundin an, denn auch du weißt, dass ich nie mehr für dich empfunden habe. Aber es ist das, was du dir am sehnlichsten gewünscht hast.“ Ich löste mich aus seiner Umarmung und küsste ihn leicht und etwas unbeholfen auf den Mund. Wir beide hatten noch keine Erfahrungen in dieser Hinsicht gesammelt, aber das war nicht wichtig. Genauso unbeholfen erwiderte er den Kuss und als wir uns lösten, sah er mich überrascht an. „Ri... Das ist... du... ich meine...“ Ich legte ihm den Finger auf den Mund, um ihn zum Schweigen zu bringen und lächelte dann sanft. Ich hatte mich entschieden. „Heute Abend gehöre ich dir..., Perris.“ Überrascht riss er die Augen auf und trat dann einen Schritt zurück. Heftig schüttelte er den Kopf. „Das... das kann ich nicht annehmen...“ Ich folgte ihm den Schritt und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Ich möchte dich nicht drängen oder zu etwas zwingen, aber ich fürchte, das ist das Einzige, was ich dir geben kann. Du brauchst keine Angst zu haben.“ „Arianne... ich... ich habe keine Angst, nur davor, dir vielleicht wehzutun.“ „Lass das nur meine Sorge sein.“ Erneut küsste ich ihn. Dieses Mal gelang es mir besser, als zuvor und ich war froh, zu spüren, wie seine Scheu langsam wich. Ich strich ihm beruhigend über die Haare und als wir uns erneut voneinander lösten, lächelte er mich fast glücklich an. „Ich werde es nicht vergessen, was du für mich tust. Du weißt nicht, was das für mich bedeutet...“ Ich erwiderte sein Lächeln und streifte dann mein Hemd über den Kopf. „Ich kann es zumindest erahnen...“ Als wir schließlich ins Gras sanken und uns liebten, brach eine ganze Palette von Gefühlen über mich herein. Trauer über Perris’ Fortgehen, Glück über die Zärtlichkeit seiner Berührungen und Angst vor der Zukunft. Ich spürte, nun würde nichts mehr sein wie zuvor – ich war quasi von einem Moment zum anderen zur Frau geworden und würde niemals wieder das unschuldige Mädchen sein. Ich wusste nicht einmal, ob ich es verantworten konnte, irgendjemandem davon zu berichten und schließlich entschied ich mich dagegen – dies sollte unser Geheimnis bleiben und das für alle Zeit. Ich schloss die Augen und versuchte alles Negative aus meinen Gedanken zu verbannen, damit ich mich in der Vergänglichkeit dieses Moments verlieren konnte – was mir schließlich auch gelang. Die Sterne standen schon längst am Himmel, als wir endlich voneinander abließen, dennoch lagen wir noch sehr lange Zeit nebeneinander im Gras und beobachteten sie. Perris fuhr gelegentlich mit der Hand durch meine Haare, was mich jedes Mal dazu brachte, den Mund zu einem leichten Lächeln zu verziehen. Ich spürte seine Körperwärme neben mir und lauschte seiner Atmung. Niemand von uns sprach ein Wort, aber das war auch nicht nötig – wir verstanden uns auch ohne etwas zu sagen. Mit den Augen suchte ich die Sterne nach vertrauten Figuren ab und nach und nach gelang es mir, einige der bekannteren Bilder zu entdecken. Mein Vater hatte oft versucht, mir die Sternbilder zu erklären, als ich noch ein kleines Kind war, als gelehrige Schülerin habe ich mich dabei niemals erwiesen. Seltsam, dass mir gerade dies nun wieder ins Gedächtnis kam, vielleicht deshalb weil es Erinnerungen aus einer besseren Zeit waren, wer konnte das schon sagen? Perris brach schließlich das Schweigen und ich konnte die Tränen in seiner Stimme förmlich heraushören. „Ich kann dir nicht sagen, wie dankbar ich bin für das, was heute Abend geschehen ist, Ri...“ Ich drehte den Kopf und küsste ihn sanft auf die Wange. „Dann sag es nicht, Perris. Behalte es einfach in deinem Herzen...“ Er zog mich ein Stück an sich und nun, da ich seine im Licht des Mondes glänzenden Augen sah, erkannte ich die Tränen, die ich vorher nur erahnt hatte. „Wie könnte ich es jemals vergessen?“ Ich hätte ihm sagen können, dass sich die Zeiten schneller änderten, als man es glauben mochte und man was einem lieb und teuer war, schneller vergaß, als man es vorhatte, aber wieso hätte ich diesen besonderen Augenblick ruinieren sollen? Ich lächelte nur sanft und kuschelte mich an ihn. Wieder schwiegen wir uns an und nur die Geräusche der Nacht waren um uns zu hören. Wenn sie doch nie enden könnte... Noch immer versuchte ich die Gedanken an den morgigen Tag zu verdrängen und die Tatsache, ihn nie wiederzusehen... Nein! Das konnte einfach nicht sein... Perris wusste nichts von meinen Kräften und selbst wenn... Hätte ich sie vielleicht einsetzen können, um zu verhindern dass er ging? Sabeth hatte mir bisher nur ‚einfache Tricks’ beigebracht, aber bei allem was sie mir gezeigt hatte – die Kunst der Gedankenmanipulation und sonstiger Illusion war nicht dabei gewesen, mit der ich Harian hätte umstimmen können... Ihre Worte, dass mein volles Potential sich noch nicht entfaltet hatte, kamen wir wieder in den Sinn und dennoch fiel mir nichts ein, was jetzt noch hätte helfen können – es kam alles zu plötzlich. Im Nachhinein glaube ich, dass alles dies zu einer Art Vorsehung gehört hatte und ich Perris gar nicht hätte aufhalten können. Die Dinge hatten sich so entwickeln müssen... In dieser Sommernacht jedoch hatte ich meine gesamte Zukunft noch vor mir und handelte nur nach dem, was mein Gewissen mir befahl – so wie ich es immer tat, um dann die Konsequenzen mit Stolz tragen zu können. Behutsam begann ich Perris’ Wange zu streicheln und als er sich zu mir umwandte, küsste ich ihn erneut. Bald liebten wir uns ein allerletztes Mal... Als ich mich zurück in unser Haus schlich, war ich überrascht, meinen Vater noch wach vorzufinden. Normalerweise hätte er längst schlafen müssen, nun aber saß er am Küchentisch und blickte mich mit einem Ausdruck an, den ich noch nie an ihm gesehen hatte. Eine einzige Kerze erhellte sein Gesicht. „Wo bist du gewesen?“ fragte er streng. Ich zuckte die Achseln. „Fort…“ Er schnappte kurz nach Luft, aufgrund meiner knappen und etwas frechen Antwort, stand dann auf und verpasste mir eine schallende Ohrfeige. „Weich mir nicht aus!“ Verschreckt und wütend zuckte ich zurück. Wie konnte er es wagen, mich so zu behandeln? Im Nachhinein muss ich ihm wohl zugestehen, dass er geahnt hatte, was zwischen Perris und mir vorgefallen war. Er hatte sich um mich gesorgt und das mit Recht. Ich funkelte ihn an. „Ich bin dir keine Antwort schuldig“, zischte ich ihn an und versuchte an ihm vorbei zur Treppe zu gelangen. Ich kam nicht sonderlich weit, da er mich am Arm packte und festhielt. Der Ausdruck auf seinem Gesicht spiegelte Wut aber auch Trauer wieder. Ich wusste, dass ich ihm ausweichen musste, wollte ich ihn nicht verletzten. „So einfach kommst du mir nicht davon, Arianne!“ Es war recht selten, dass er meinen vollen Namen benutzte und er tat dies nur, wenn er besonders aufgewühlt war. „Ich habe deine Geheimniskrämerei satt und das nächtliche Fortschleichen. Ja, sieh mich nicht so an, ich weiß dass du jede Nacht aus dem Haus schleichst.“ Ich war wohl wirklich eine schlechte Schauspielerin, denn in der Tat konnte ich meine Überraschung nicht darüber verbergen, dass er über mein nächtliches Weggehen Bescheid wusste. Ich beschloss direkt zum Angriff überzugehen und funkelte ihn wütend an, während ich mich aus seinem Griff befreite: „Und warum bringst du es dann erst heute zur Sprache?“ „Weil ich dir vertraut habe, Arianne.. Ich dachte, es würde sich um eine einmalige Angelegenheit handeln. Stattdessen muss ich mitansehen, wie meine Tochter zu einer Herumtreiberin verkommt!“ „Ich bin keine Herumtreiberin!“ „So? Und was bist du dann?!“ Ja, was war ich dann? Eine Adeptin, die niemandem davon erzählen durfte. Ein Mädchen, das von vielen im Dorf bewundert und gleichzeitig verachtet wurde und keinen wirklichen Freund hatte, außer Perris, der nun für immer fortging... Ich war jemand, der noch immer seinen Platz im Leben suchte. Doch was half es, mein Vater hätte es nicht verstanden, selbst wenn er gewollt hätte. Er liebte mich sehr, aber verstanden hatte er mich nie. Wenn ich ehrlich war, war Sabeth bisher die einzige, die es wirklich tat. Ich atmete geräuschvoll aus und sah ihm in die Augen. „Ich bin deine Tochter.“ Einen Moment lang verhärteten sich seine Gesichtszüge und ich war mir nicht sicher, ob er mich für eine erneute Frechheit ohrfeigen würde. Dann jedoch lächelte er und klopfte mir auf die Schulter. „Das weiß ich doch... Ich weiß, dass ich dich niemals wirklich verstanden habe, mit deinem starken Willen und deinen Stimmungsschwankungen, aber ich habe dich immer so akzeptiert wie du warst. Du musst verstehen, ich mache mir doch nur Sorgen um dich und ich kann ja nicht ahnen, wo du des Nachts hingehst...“ Er ließ es zwar unausgesprochen, aber ich war mir sicher, er musste noch immer an den Vorfall mit Sinya denken. Er wollte mir ein ähnliches Schicksal ersparen... „Ich kann dir versichern, dass es sich um nichts Gefährliches handelt, Vater. Ich besuche Sabeth...“ „Sabeth?! Was um Temeths Willen hast du mit dieser verrückten Alten zu schaffen?“ „Ich helfe ihr bei dem ein oder anderen...,“ log ich, „und sie ist mir recht dankbar dafür. Wir haben uns irgendwann einmal im Wald getroffen und sie schien recht freundlich zu sein. Sie hat euch doch auch schon geholfen, oder nicht?“ Er nickte kurz, deutlich machend, nicht auf das Thema angesprochen werden zu wollen und ich lächelte leicht. Wieder einmal war eine Diskussion zu meinen Gunsten ausgegangen, obwohl ich im Unrecht gewesen war. Wir saßen noch eine Weile zusammen und unterhielten uns. Er stellte noch einige Fragen bezüglich Sabeth und ich beantwortete, so gut ich es vermochte und wollte. Er schien zufrieden zu sein, mit dem, was er hörte und so war ich es auch. Irgendwann gingen wir zu Bett und sprachen seitdem nie wieder über dieses Thema. Es war nicht mehr relevant. Und erst recht nicht mehr, als ich meinen Zustand bemerkte... Ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass ich in den nun folgenden Wochen und Monaten mehr gelernt habe, als in meinem bisherigen Leben. Zunächst einmal meisterte ich die Gabe der Verdrängung ganz ausgezeichnet, denn ich verstand es wie keine Zweite, die zunehmenden physiologischen Veränderungen meines Körper geflissentlich zu ignorieren. Es war nicht so, dass ich nicht Bescheid darüber wusste, was unter Umständen mit mir los war, im Gegenteil, ich wollte es nur nicht wahrhaben. Die recht schnell einsetzende morgendliche Übelkeit schob ich zunächst auf schlechtes Essen und zu wenig Sauerstoff und es gab zunächst wenig, das dem widersprach – zumindest so lange, bis meine Blutung ausblieb. Aber die konnte ja auch nur verspätet sein? Vielleicht ausgelöst durch die Aufregung der letzten Tage... Nach ungefähr eineinhalb Monaten erkannte ich schließlich, dass all das nichts nützte: ich hatte den Tatsachen ins Auge zu sehen, die Folgen meines Abends mit Perris zu akzeptieren und damit zu leben. Infolge dessen lernte ich zum ersten und letzten Mal in meinem Leben, was es bedeutete, ein Kind unter dem Herzen zu tragen und zwar immer in Furcht, entdeckt und verstoßen zu werden. Dies brachte mich schließlich dazu, recht außerordentliche Maßnahmen zur Vertuschung zu ergreifen. So versuchte ich mich, so oft wie möglich aus der Gesellschaft meiner Mitmenschen zu stehlen und sorgte dafür, immer einen triftigen Grund zu haben. Mir war klar, nicht in der Lage zu sein, meinen Zustand bis zum bitteren Ende verbergen zu können, aber immerhin konnte ich so ein paar wertvolle Monate gewinnen, in denen ich mir Gedanken um meiner weitere Vorgehensweise machen konnte. Eines Nachmittags suchte ich Perris’ Eltern auf, um sie zu fragen, wo er sich denn möglicherweise aufhalten könnte, wurde jedoch von Harian ohne einen weiteren Kommentar abgewiesen. Mit eisigem Gesichtsausdruck schlug er mir die Tür vor der Nase zu, mit dem Seitenhieb, ich habe seinen Sohn wohl schon genug verdorben und sollte mich besser um meine eigenen Angelegenheiten kümmern. Wie hätte ich ihm sagen können, dass es sich sehr wohl um meine eigene Angelegenheit handelte? Zerknirscht machte ich mich auf den Heimweg und versuchte anderweitig an diese Information zu gelangen, was jedoch bis zum Schluss nicht von Erfolg gekrönt war. Die erste, die meine Schwangerschaft bemerkte, war Sabeth, aber sie verriet keiner Menschenseele ein Wort. Nein, mir wurde wie üblich, der Zufall zum Verhängnis, um genau zu sein ein spätherbstlicher Tag. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie es war: die Blätter waren zum größten Teil schon gefallen und ein kühler Wind blies über die abgeernteten Felder. Ich hatte mich an den Fluss zurückgezogen, saß an einen Baum angelehnt und beobachtete einige Dorfbewohner dabei, wie sie fischten. Ich erkannte Doran und Haurus Sherran, zwei Brüder die nicht weit von uns ihren Hof bewirtschafteten. Sie waren so mit ihrer Arbeit vertieft, dass ihnen entging, wie sich Dorans dreijähriger Sohn Michal selbstständig machte und das Ufer erkundete. Als Älteste von drei Geschwistern hatte ich eine gewisse Ahnung davon, wie sich kleine Kinder verhalten, sobald sie unbeobachtet waren und ließ deshalb den Jungen nicht aus den Augen. Mit tollpatschigen Schritten bahnte er sich seinen Weg durch das Schilf, fasziniert von all dem was er um sich herum entdeckte. Oh ja – die Unschuld der Jugend. Eine vorbeischwimmende Entenfamilie stellte sich am Ende als der wahre Unfriedensstifter heraus. Michal, von dem allen Kindern zu eigenen Bedürfnis gepackt, die Tiere anzufassen verfolgte sie und fiel kurz darauf ins Wasser. Es war nicht so, dass ich es nicht gewusst hätte, im Gegenteil – ich hatte von Anfang so etwas befürchtet. Handelte ich verantwortungsvoll? Ich weiß es nicht und im Nachhinein denke ich, ich hätte schon zuvor besser auf ihn aufpassen sollen und ihn vom Ufer wegholen, aber wer war ich denn? Ein sechzehnjähriges Ding, das über seinen Problemen brütete ohne eine Lösung zu finden... Wie dem auch sei, was hätte es mir gebracht? Sie hätten die Wahrheit so oder so erfahren, nur vielleicht ein wenig später... „Pass auf!“ schrie ich und sprang kurzerhand in den Fluss... Es ging alles so schnell... so schnell, dass ich mich nicht mehr an alles erinnern kann. Ich muss Michal wohl gepackt haben und es geschafft haben, mich irgendwie mit ihm ans Ufer zu bewegen, wo ich erst einmal erschöpft liegen blieb, bis Doran und Haurus, durch meinen Schrei alarmiert herbeieilten. Doran nahm sofort seinen schreienden Sohn auf den Arm, um ihn zu trösten, während sein Bruder sich um mich kümmerte, die triefend und schnaufend auf dem Bauch lag und vor Kälte zitterte... und schluchzte... „Arianne...“ Behutsam stieß mich Haurus an und ich wandte den Kopf um ihn anzusehen. Als ich keine weitere Reaktion zeigte, zog er mich hoch und schüttelte mich leicht. „Mein Gott, Arianne, ist alles in Ordnung mit dir?“ „Ja...“ brachte ich matt heraus und wollte mich aus seinem Griff lösen. „Bist du sicher?“ Ich nickte und schluckte und wollte mich langsam aufrichten... die Kleider klebten an meinem Leib. „Danke, dass du Michal....“ Er stockte, als er meinen gewölbten Bauch entdeckte und wechselte einen Blick mit seinem Bruder. Was dann geschah, weiß ich nicht mehr, mir wurde schwarz vor Augen und ich fiel auf den Boden zurück. Ich bin mir nicht sicher, inwiefern es vonnöten ist, ausführlich über das zu berichten, was dann folgte. Ich muss zugeben, dass mich die Erinnerung daran immer noch schmerzt. Jahrelang habe ich versucht, zu verdängen, was mir an jenem Tag widerfahren ist, oder es zumindest mit Stolz oder herablassender Arroganz zu betrachten – geglückt ist es mir nur sehr selten. Als ich wieder aufwachte, lag ich daheim auf meinem Bett. Man hatte mich bis auf die Unterkleider ausgezogen und in eine dicke Decke gepackt. Ich zitterte noch immer vor Kälte und versuchte mich, besser in die Decke zu wickeln. Zunächst einmal ließ ich niemanden wissen, bereits wieder bei Bewusstsein zu sein, sondern hielt die Augen geschlossen und die Ohren gespitzt. Es befanden sich wohl einige Menschen in der Kammer, die sich gedämpft unterhielten. Ich erkannte Wortfetzen, wie: „Was sollen wir jetzt mit ihr tun?“ oder „Wie konnte es nur dazu kommen, sie schien immer so vernünftig.“ Meine Mutter schluchzte und mein Vater tobte. Irgendwann konnte ich es nicht mehr ertragen, unbeweglich dazuliegen und ich richtete mich langsam auf. Schlagartig waren alle Augenpaare im Raum auf mich gerichtet. Ich hatte mich offensichtlich nicht getäuscht, denn meine Mutter saß tatsächlich mit tränengeröteten Augen auf einem Schemel neben meinem Bett. Zudem waren sowohl der Bürgermeister als auch der Priester zugegen, ganz genau wie damals, als man Sinya verurteilte. Lediglich der Mann in der schwarzen Kutte fehlte. „Arianne!“ Mit wutverzerrtem Gesicht stürzte mein Vater sich auf mich, hielt aber im letzten Moment inne, mich zu schlagen. Stattdessen starrte er mir in die Augen. „Wie konntest du nur? Wie konntest du uns das antun? Meine eigene Tochter... eine Hure!“ „Borris!“ ging meine Mutter dazwischen. Sie legte mir ihre Hand auf den Arm. „Ich bin keine Hure,“ sagte ich kalt und schob die Decke zur Seite. Jetzt konnten sie es alle sehen. Ich wollte dass sie es sahen. In diesem Moment war mir einfach alles egal. Ich hatte es ja die ganze Zeit gewusst, dass sie es früher oder später erfahren würden. Nun war dieser Moment gekommen und ich war viel ruhiger, als ich es je geglaubt hätte. Nein, der Schmerz, die Demütigung, das stellte sich alles viel später ein, als ich aus der Distanz noch einmal die Zeit hatte, meine Erinnerungen auf mich wirken zu lassen. Empörtes Aufkeuchen ging durch den Raum. „Wie sonst aber, ist es zu erklären, dass du nun ein Kind unter dem Herzen trägst, Fräulein?“ fragte der Bürgermeister mit einem gehässigen Unterton. „Das lasse ich Euch raten!“ entgegnete ich frech. „Arianne!“ Wieder mein aufgebrachter Vater. Oh, wie ich sie alle in diesem Moment hasste. Sie, die von nichts eine Ahnung hatten und sich anmaßten über mich zu richten, mich eine Hure beschimpften und doch nichts wussten. „Wer ist denn nun der Vater?“ platzte es schließlich dem Priester heraus, der damit aussprach, was sie alle die ganze Zeit wissen wollten. „Könnt Ihr Euch das nicht denken? Du liebe Güte, wer soll es denn schon sein? Perris, natürlich! Als ob Ihr das nicht ganze Zeit geahnt habt.“ Mutter brach erneut in Schluchzen aus und mein Vater stieß ein Schnauben aus. „Und wisst Ihr noch etwas? Ich bereue es nicht, was ich getan habe! Niemals!“ „Wäre nicht ein bisschen mehr Demut angebracht, junges Fräulein?“ Nochmals schaltete sich der Bürgermeister ein. „Wieso sollte ich einem scheinheiligen Haufen, der komplett veraltete Gesetze verteidigt, demütig gegenüber stehen?“ Erneut empörtes Aufkeuchen. Im Nachhinein taten mir meine Eltern wirklich leid. Sie liebten mich ja doch auf ihre Art und ich hatte sie gerade auf die größtmögliche Art beschämt. Nicht genug damit, dass sie sich darauf gefasst machen mussten, mich zu verlieren, nein ich war auch noch frech und uneinsichtig. Aber was konnte man erwarten? Ich war so wütend, auf ihr aller Verhalten und ich war nicht in der Fassung unemotional zu reagieren. Auch ich hatte mit den Konsequenzen zu rechnen: Verbannung. Dennoch – diese Aussicht erschien mir an jenem Nachmittag nicht einmal so schrecklich. Ich hatte einfach das Gefühl ihnen allen klarmachen zu müssen, wie sehr ich über dieser Sache stand und wie sehr ich all das verachtete. Einen Gefallen tat ich mir damit sicher nicht. Sie versuchten noch ein paar Mal, mich an jenem Nachmittag „zur Vernunft“ zu bringen, mich wenigstens sagen zu hören, ich bereute was ich getan hatte, aber ich tat ihnen den Gefallen nicht. Schließlich gaben sie auf und ließen mich alleine. Auch meine Eltern sprachen kein Wort mehr mit mir und am nächsten Tag war die Verurteilung. Was soll ich darüber noch groß sagen? Es verlief ganz genauso wie bei der armen Sinya, aber ich nahm das Urteil der Verbannung mit großer Gefühlskälte an. Zu sehr schwelte die Wut noch in mir. Und dann, an einem kalten Morgen, der schon auf den Winteranfang hindeutete, wanderte ich mutterseelenallein von meinem Heimatdorf in die Fremde, all das zurücklassend, was mich die vergangenen sechzehn Jahre meines Lebens geprägt hatte. Ich wusste nicht, was auf mich wartete, aber es störte mich noch herzlich wenig. Zunächst einmal musste ich lernen zu überleben – der Winter stand vor der Tür und trotz warmer Kleidung und einem kleinen Bündel mit Nahrung und einigen Überlebenshilfen, musste ich doch lernen, mich zurechtzufinden. Aber das ist, denke ich eine Geschichte für einen anderen Tag.“ Der Wachhauptmann sieht mich prüfend an und atmet dann aus. Ich bin sicher, ihm fehlen die Worte und dennoch, er scheint noch nicht recht überzeugt zu sein. „Du scheinst also nicht das erste Mal alleine in der Fremde zu sein?“ „Nein, durchaus nicht, Herr!“ „Anscheinend hinterlässt du Chaos, wo du hinkommst.“ „Ganz so kann man es auch nicht sagen, Herr!“ „Hmm... du kommst also tatsächlich aus Emeranea... Dem sagenhaften Inselkönigreich inmitten des Großen Meeres. Du bist ziemlich weit fort von Zuhause, wenn ich das sagen darf. Und wenn man den Gerüchten Glauben schenken darf, ist es um deine Heimat auch nicht besonders gut bestellt.“ Seine Worte geben mir einen Stich, aber ich versuche die Trauer hinunterzuschlucken. „Das ist richtig, Herr. Darauf möchte ich später auch noch zu sprechen kommen.“ „Ich verstehe. Nun, ich denke, du hast recht. Für heute ist es genug. Dennoch, ich kann dich nicht gehen lassen. Die Leute sind wegen dir verunsichert. Zudem habe ich noch nicht entschieden, was mit dir geschehen soll. Dazu sind mir noch zu viele Fragen offen.“ Ich habe mit einer solchen Reaktion gerechnet und nicke knapp. Als er mich in eine Zelle führt, wo ich den Rest des Abends verbringen soll, fühle ich mich nicht einmal so unwohl, wie ich es anfangs gedacht habe. Vielleicht ist alles eine Frage der Gewöhnung. Ich lege mich auf eine Pritsche und starre an die Decke. Emeranea scheint so fern und doch so nah in meiner Erinnerung. Diese Menschen hier können niemals das mit meiner Heimat verbinden, was ich fühle. Im Nachhinein ging alles so schnell und so unerwartet. Man hat mich betrogen, damals... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)