Tobrisches Schattenspiel von Sperber (Lares und Zylya im Dienste des KGIA 27 Hal) ================================================================================ Prolog: Begegnung ----------------- Begegnung Zylya. Praios 27 Hal. Über ein Jahr warst du allein unterwegs, incognito, immer dort, wo du deinen Job zu erledigen hattest. Du hast viele Landschaften gesehen, in vielen Städten gelebt, den Aufstieg der dunklen Mächte geschehen sehen, ohne das Gefühl zu haben, etwas daran ändern zu können. Du warst allein, und zum ersten Mal seit langem spürtest du, was dies eigentlich in einer Welt wie Aventurien in Zeiten wie diesen bedeutete: Hilflosigkeit. Einsamkeit. Wenn Not am Mann war, konntest du allein kaum zur Abwendung der Bedrohung oder zur Lösung von Problemen beitragen. Mit der Zeit verfluchtest du die Gabe, größere Zusammenhänge zwischen den Geschehnissen um dich herum zu spüren und Wege zu sehen, die die Lage der Menschen um dich herum verbessert hätten, die du aber ohne Kameraden nicht beschreiten konntest. Mit niemandem konntest du über persönliche oder Dinge aus deiner Vergangenheit sprechen, ohne aus deinen Rollen zu fallen - Söldnerin, Handelsreisende, Magd oder Streunerin, alles, was nötig war, aber nie warst du du selbst. Regelmäßig die Identität zu wechseln brachte dich dazu, dich so zu fühlen, als würdest du dich selbst nicht mehr richtig im Blick haben, als würden die Grenzen deiner Persönlichkeit verschwimmen oder gar fallen. Als der regelmäßige Kontakt mit dem KGIA aufgrund der unsicher werdenden Briefwege seltener wurden, blieben auch direkte, kleinere Aufträge aus, die dir, wenn auch nicht wirkliche Befriedigung, doch das Gefühl gegeben hatten, zumindest noch irgendwie nützlich zu sein. Borbarads Heere begannen über die Lande zu ziehen und färbten es schwarz. Viele Menschen, die du kennen und schätzen gelernt hattest, starben, gingen emotional zu Grunde, und oft wünschtest du dir, lieber sterben zu können, als dies alles tatenlos mitansehen zu müssen. Du wurdest unvorsichtiger, einmal hättest du fast deine derzeitige Identität verloren und wärest entdeckt worden. Du wusstest, dies würde bedeuten, dass Häscher nach dir ausgeschickt wurden, Killer, wenn nicht gar Dämonen. Und doch, wenn du wieder einmal nachts verzweifelt in dein Kissen geweint hattest, sehntest du dich danach, dass dies alles ein Ende haben möge. Anfang Praois 27 Hal erhieltst du überraschenderweise einen Brief mit der Anweisung, dich mit einem anderen Agenten zu treffen, von dem du näheres erfahren würdest. Diese Aussicht war ein Lichtblick für dich, denn endlich würdest du wieder gegenüber jemandem du selbst, Zylya, sein dürfen, und sei es nur in unbeobachteten Momenten, sei es nur bruchstückhaft, sei dieser Partner ungenießbar. Du bekamst nur eine vage Beschreibung: Männlicher Mittelreicher, dunkelhaarig und dunkeläugig, mittelgroß, der als Erkennungszeichen ein rot eingebundenes Buch bei sich tragen sollte. Der Treffpunkt war eine Kaschemme zwei Orte weiter, die du bereits kanntest und verachtetest, und du selbst solltest zur Erkennung Gänsekiel und Tinte auf den Tisch stellen. Nervös und auch etwas ängstlich saßt du am vereinbarten Abend in der winzigen Dorfkneipe, Zweifel kamen dir, ob dies nicht eine geschickt eingefädelte Falle sein könnte. Fast hattest du dich dazu durchgerungen zu gehen, du warst sogar bereits aufgestanden und hattest nach Gänsekiel und Tinte gegriffen, als die Tür sich öffnete und dein Blick auf ein rotes Buch fiel, das ein Mann in der Armbeuge hielt. Du erstarrtest. Noch war es nicht zu spät, die Sachen wegzupacken. Du wandtest den Blick ab, die Tür fiel ins Schloss, es war still. Langsam griffst du nach dem Tintenfaß, so unauffällig wie möglich, und schobst es hinter deinen Körper, bevor du unauffällig über die Schulter sahst, um den Besitzer des Buches zu mustern. Er war von normaler Größe, trug ein Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln, Hose, einen rostfarbenen, ziemlich langen Mantel mit weißen Einsätzen an Ellenbogen und Knien, den er sich über die Schulter geworfen hatte - der Tag war sehr warm - und eine helle Mütze mit schmaler Krempe, unter der kurze schwarze Haare hervorschauten. Unter dem Arm, in dem er das Buch hielt, klemmte ein schmuckloser Stab mit knorrigem, gebogenen Kopfstück. Du starrtest den Stab an. Dein alter Reisegefährte Lares Alfaran hatte auch so einen gehabt. Lares, was Lares wohl tat ? Für einen Moment kehrte die geballte Einsamkeit unfreiwillig durchgewachter Nächte zurück, du wandtest dich rasch ab. Ein dicker Kloß saß in deiner Kehle und kurz traten dir Tränen in die Augen, die du beinahe gewaltsam zurückdrängtest. Du balltest die Finger um Feder und Fässchen, bis du deiner selbst wieder Herr wurdest, deinen stolzesten Blick aufsetztest und wieder über die Schulter blicktest. Der Mann starrte dich völlig unverhohlen an. Du bekamst einen Schreck. Weshalb ? Da war etwas in seinem Gesicht, das dir vertraut war, und doch wusstest du für einige Augenblicke nicht, wohin damit, und diese Zeit brauchte der Mann, um mit langen Schritten durch den Raum auf dich zu zu laufen, Stab und Buch fallen zu lassen und dich zu umarmen. "Zylya", flüsterte es an deinem Ohr. Du hattest ihn perplex gewähren lassen und gerade erwogen, ihn von dir zu stoßen, als die lang nicht vernommene Stimme deinen Widerstand im Keim erstickte. War das Lares' Stimme ? Stocksteif standest du da, während er dich an sich presste, bis du die Hände hobst und ihn vorsichtig von dir schobst, um ihn anschauen zu können. Er sah älter aus. Einige Sorgenfältchen hatten sich in seine Augen- und Mundwinkel gegraben, und kurz über seinem rechten Ohr zog sich eine Narbe ins Haar, die du nicht kanntest. Keine Glatze mehr. Er hatte Haare, kurzes, schwarzes Haar, aber es war ganz eindeutig er, und als er schwach und etwas unsicher lächelte, warst du ganz sicher. Diese Art zu Grinsen, zu typisch ! Wenn auch diese Art des Lächelns, verhalten und fast oberflächlich, dir neu war ... "Hallo", sagte er, und all die verzweifelten Stunden brachen auf einmal aus dir heraus: Du warfst beide Arme um seinen Hals und konntest dich gerade noch soweit beherrschen, nicht wie ein Kind loszuheulen, als du dich an ihn presstest und erstickt "Hallo" stammeltest. Ein Mensch, den du kanntest ! Ein Mensch, der dich kannte ! Aber gerade Lares muß es sein, motzte eine kleine Stimme in deinem Hinterkopf, und wieder hättest du beinahe geschluchzt, so sehr gehörte dieses Stimmchen in alte, bessere Zeiten. Und als du spürtest, wie sich seine Hände in den Stoff an deinem Rücken gruben, warst du so glücklich wie nie zuvor. Seit Monaten hattest du nicht mehr soviel geredet wie in den nächsten Paar Stunden. Da gab es soviel zu erzählen ! Nachdem ihr dem Wirt einen Hinterraum und eine Karaffe Wein sowie das Versprechen, gepaart mit einer kleinen Drohung, was ihm bevorstünde, wenn er lauschen würde, abgekauft hattet, standen eure Münder kaum mehr still. Wo kamen Lares' Haare her ? - Sie waren irgendwann plötzlich wieder gewachsen, erklärte er grinsend. Und da es in seinem Interesse stand, nicht mehr all zu schnell als Lares Alfaran kenntlich zu sein, und die Tätowierung auf seiner Kopfhaut war doch arg individuell, ließ er sie. Ganz allein in Tobrien auf Reisen, war jedwede Auffälligkeit gefährlich ... Was hatte er gemacht ? - Er hatte, seit ihr allein unterwegs wart, im Auftrag der Gilde Artefakte und Briefe transportiert und für den KGIA Berichte über den politischen und infiltrierten Zustand der Gegenden, durch die er kam, geschrieben. "Kaum zu glauben, dass wir beide im KGIA sind! Hätten wir uns doch nur nicht an das Schweigegebot gehalten, dann hätten wir wenigstens Bescheid gewusst !" Wo war er gewesen ? - Immer auf der Straße im Osten Aventuriens, mit zeitweiligem Aufenthalt in Akademien, Stützpunkten und Herrenhäusern. "Das war kein Problem. Ich bin immer gereist, Straßen sind für mich fast eine Art Heimat ... nur dass ich allein reisen musste..." Er ließ den Satz unvollendet, sein Gesicht verdüsterte sich. Du nicktest einfach. Das musste er dir wirklich nicht erklären. Er fragte dich über deine Erlebnisse aus, und stolz berichtetest du von deinen Erfolgen. Es waren doch recht viele, fiel dir auf, als du so erzähltest. Das gab dir, gemeinsam mit dem altvertrauten Gestichel mit Lares, das sich nach einer Weile wieder einstellte, als hättet ihr euch erst gestern das letzte Mal gesehen, das Gefühl, als wären die harten Momente in den Jahren zuvor nicht wahr, die Zeit des Alleinseins nur ein Traum gewesen. Nichtsdestotrotz gab es Dinge, die du an ihm nicht kanntest, angefangen bei der Narbe, die von einem Scharmützel zur Verteidigung einer Nachricht herrührte (ein ganz allein kämpfender Lares war eine erstaunlich bemitleidenswerte Vorstellung), über die Tatsache, das zwei der Dinge, die ihn immer ausgemacht hatten - die rote Kutte und der tätowierte, blanke Kopf - zwecks Wahrung seiner Deckung verschwunden waren, bis hin zu einer weniger unbeschwerten Art, zu sprechen und zu lachen. Sobald dir diese Dinge einmal ins Auge gefallen waren, kamst du nicht mehr davon los, Unterschiede zu dem Lares aus deinem Gedächtnis zu suchen, und allmählich verging anhand all deiner Beobachtungen die Illusion, nichts wäre wirklich geschehen. Er trug Handschuhe, um das Magiersiegel zu verbergen. Sein Blick wurde bedrückt, wenn er beim Erzählen an Punkte kam, bei denen du das Gefühl hattest, er würde etwas auslassen. Und das Haar ! Nichts, was ihn mehr verändert hätte. Irgendwie hattest du das Gefühl, dass er erst jetzt irgendwie wirklich ein Gesicht hatte, etwas, dass man als gut oder schlechtaussehend bezeichnen konnte. Du mustertest ihn lange, ohne diesbezüglich irgendwie zu einem Ergebnis zu kommen: Tendiertest du zu "gutaussehend", sagte die kleine Stimme im Hintergrund Das ist Lares !, fandest du ihn eher unansehnlich, war es nicht ganz ehrlich. Irgendwann bemerkte er deine Blicke. " Was ?" fragte er mit einem halben Lächeln. "Hab ich mich so verändert ?" " Schon irgendwie." Er nippte an seinem Glas, sein Blick streifte über dich. "Du dich auch." Das war dir nicht ganz angenehm. Sowohl der Blick als auch die Feststellung. "Inwiefern ?" "Naja..." Er sah weg. "So ... fertig. Ausgelaugt. Dein Gesicht ist nicht mehr so..." " So was ?" fragtest du leicht misstrauisch. " Hochmütig", grinste er und lachte, als du drohend die Weinkaraffe in seine Richtung schwenktest. Einen Moment herrschte Schweigen, ein Schweigen, das nicht ganz angenehm war. "Unser Auftrag ist eigentlich ... ?" fragtest du irgendwann, nur um etwas zu sagen, und bereutest es fast sofort, denn eine gewisse Spannung, die du nicht kanntest, fuhr in seine Schultern, und so sofort auch in deine. "Wir sollen etwas ... besorgen. Ein Artefakt. Die Borbaradianer sollen es nicht bekommen." Kurzes Schweigen. "Erinnert mich an die Pantheonsteine." "Nicht wahr ? Wahrscheinlich sind wir nicht umsonst wieder zusammen." Einen Augenblick warst du sauer, dass der KGIA tatsächlich die Fäden in der Hand hielt, über euer Gedeih und Verderb zu entscheiden, zu bestimmen, ob ihr euch traft oder nicht, ob ihr vor Kummer und Einsamkeit leidet oder nicht, und dass die tatsächlich glaubten, sie könnten euch dann, wenn sie eure Fähigkeiten brauchen konnten, einfach mal wieder zusammenwerfen und dann solltet ihr funktionieren ! "Zylya ..." sagte er sanft, beobachtete deinen Gesichtsausdruck. Du senktest den Kopf. "Ich hab's so satt", brach es erstickt aus dir hervor. Einen Moment sah er dich an, dann zog er, ohne dich anzusehen, die Handschuhe aus und legte die Hand mit dem Symbol der Akademie in der Fläche auf denTisch neben deine Hände. Eine Geste, die Trost anbot. Lange Augenblicke zögertest du. Dann nahmst du vorsichtig seine Hand. Sie war trocken und schmaler, als du dachtest. Er lächelte ermunternd, drückte deine Finger. "Das schaffen wir. Wir haben schon ganz anderes geschafft." " Da waren wir aber zu sechst", antwortete sie gequält. " Ach, die waren doch nur Ballast." Sein Grinsen steckte an. Tatsächlich fühltest du dich etwas zuversichtlicher, auch wenn das Gesagte nur ... eben Gesagtes war. Später, als ihr schon geraume Zeit nebeneinander auf zwei Strohsäcken in der einzigen intakten Herberge der Gegend lagt und du dachtest, er würde schon lange schlafen, bemerktest du plötzlich, dass er dich ansah. Einen Moment hattest du Panik, aber dann fiel dir auf, dass dein Gesicht im Schatten war und dass er wahrscheinlich gar nicht wußte, dass du ihn sehen konntest. Sein Blick ... du konntest es nicht wirklich deuten. Aber er wirkte offener, unverfälschter, als du ihn je zu sehen bekommen hattest. Vielleicht, weil er sich unbeobachtet fühlte ? Dir kam der Gedanke, das vielleicht auch Lares' tägliches Verhalten, so wie deines, etwas war, das unverwundbar machen sollte, stark und wehrhaft. Er sah gerade unheimlich ... schutzlos aus. Beunruhigend. Du schobst die Gedanken weg und drehtest dich auf den Rücken. "Zylya ?" Dir blieb fast das Herz stehen. Hatte er dich doch zurückschauen sehen ? "Hm ?" " Schön, dich zu sehen." Kapitel 1: Adel verpflichtet ---------------------------- Adel verpflichtet Lares. Rondra 27 Hal. Die Hitze flimmerte über der staubigen Straße. Lares hatte die Vorhänge der gemieteten Kutsche so weit es ging gelöst, damit die Luft in dem kleinen Raum besser zirkulierte. Rock und Hose klebten bereits jetzt an seinem Körper. Nun, das konnte auch die Nervösität sein. Er ging Persönlichkeit und Vergangenheit seiner Rolle, Irian von und zu Echterdingen, zum wohl hundersten Mal in Gedanken durch. Fast verarmter Landadel in den letzten Zügen, stämmig aus dem Koschgebirge, wegen Geschäften in Tobrien, zusammen mit seiner jungen Verlobten. Er blickte zwischen seinen Fingern, die er in einer Geste, die sowohl als Sonnenschutz als auch gegen die leichten Kopfschmerzen diente, über Augen und Nase gelegt hatte, zu Zylya hinüber. Sie wirkte ganz kühl in ihrem hellblauen Seidenkleid, mit den hochgesteckten Haaren und ihrem Fächer. Mirinda vom Felswasser, Erbin eines wohlhabenden Junkers, rief er sich ins Gedächtnis. Eine Zweckehe. Zylya hatte darauf bestanden. " Alles okay ?" fragte sie zwischen zwei Erschütterungen der Kutsche auf der holprigen Straße. Er brummte etwas, das sowohl ja und auch nein bedeuten konnte, und sie lächelte darüber, während sie sich mit ihrem Spitzenfächer leicht Luft zuwehte. Sie saß völlig gerade, wie eine Dame von Adel es tun sollte. Er beneidete sie, dass sie bereits jetzt so in ihrer Rolle war. Er war sich plötzlich nicht mehr so sicher, dass er sich noch genügend an die Etikette, die er von seiner Jugend in Belhanka und der Hochzeit auf Schloß Grauenfels am Angbarer See mitgenommen hatte, erinnern konnte, um glaubwürdig einen Adeligen zu spielen. Er spürte Zylyas Blick auf sich ruhen und setzte sich unbehaglich um, versuchte, sich nichts von seinen Zweifeln anmerken zu lassen. Scheinbar erfolglos, denn sie lächelte plötzlich und sagte: "Keine Angst. Phex steht uns bei." Er sah sie an, musterte ihren zuversichtlichen Gesichtsausdruck. Ihre Nähe zu Phex fiel ihm ein, das Karma, das in ihr ruhte, wie in ihm die Kraft Hesindes. Unwillkürlich tastete er in sich hinein, versicherte sich der weichen, grüngoldenen, fast stofflichen Wogen. Es war tröstend, spendete ihm Klarheit. Vielleicht spürte sie, dass Phex ihnen gewogen war. Außerdem hatten sie gespendet. Es würde sicher alles besser laufen, als er es sich ausmalte. Er hatte ein plötzliches, heftiges Bedürfnis nach einer tröstenden Hand. " Lares ?" Er zuckte leicht zusammen. "Ja. Jaja. Alles in Ordnung." Sie runzelte besorgt, skeptisch die Stirn. "Noch können wir umkehren." Daran hatte er auch schon gedacht. "Und drei Wochen Vorbereitung sowie einen Haufen Dukaten in den Wind schreiben ? Nein." Er hoffte wirklich, dass ihm seine Bedenken nicht so ins Gesicht geschrieben standen, wie er sie fühlte. Minutenlang rollten die Kutsche weiter, die Hitze lastete schwer in der kleinen Kabine. Lares verlegte sich darauf, aus dem Fenster zu sehen, um sich abzulenken, anstatt weiter zu grübeln. Die Felder und Wiesen Tobriens flogen vorbei, der schwere Geruch von Herbstblumen lag in der Luft. Schafe, Kühe, Gehöfte, Wege und Wanderer, all das zog vorüber wie eine Rekapitulation seines Lebens, wie eine Erinnerung an das, was es bedeutete, ein Mensch zu sein, frei zu sein. Er wandte den Blick wieder ab, legte die Unterarme auf die Knie und ließ den Kopf sinken. Das Magiersiegel in der Haut seiner Rechten zog seinen Blick an, er öffnete die Finger ... vertraute Linien, eine Kennzeichnung, auf die er stolz war. Und doch ... sie machte ihm plötzlich Angst. Belhanka war keine berühmte Akademie wie Punin oder Gareth, man würde sie wahrscheinlich nicht erkennen, aber nichtsdestotrotz war es eindeutig das, was es nun mal war: Ein Magiersiegel. Ein Brandmal, eine Warnung an normale Menschen. Nun mehr denn je. Er dachte an seinen Meister, der ihm den Siegelstab in die Handfläche gedrückt hatte, mit einem halb erfreuten, halb sorgenvollen Blick. "Lares", hörte er seine Stimme. "Ich weiß, du bist momentan einfach nur froh und glücklich, dass du alles hier hinter dir hast ... aber sei vorsichtig. Ein Magiersiegel ist als Sicherheit für dich gedacht, denn es unterstellt dich dem Gildengesetz und dem Gildenschutz ... aber man könnte es auch gegen dich verwenden ... nicht in allen Köpfen ist ein Magier ein unter Hesindes Aufsicht ausgebildeter, verantwortungsvoller und rechtschaffener Mensch. Manche von uns tragen auch nicht eben dazu bei, dass sich das ändert ..." Lares schloß die Hand zur Faust. Würde man das Symbol heute entdecken, war er geliefert. Im Moment hätte er viel darum gegeben, es niemals erhalten zu haben. Er zog brüsk die Handschuhe an, legte die Stirn in die Hände. Wann hatte er das letzte Mal solche Angst gehabt ? Die Kutsche hielt. "Lares", sagte Zylya leise. Er sah auf. Ihr Blick ruhte auf ihm, ihr Gesichtsausdruck war weich, so weich, dass er sich gar nicht erinnern konnte, es jemals zuvor so gesehen zu haben. "Schau nicht so drein ... das passt nicht zu dir." Er wusste nicht, wie ihm geschah. Kein verbaler Tritt ... freundliche Worte. Verwundert starrte er sie an, und völlig unversehens breitete sich ein warmes Gefühl in seinem Bauch aus, ein beinahe schmerzhaftes Ziehen, das ihm für Momente die Fähigkeit zu denken raubte. Sie hielt seinen Blick und grinste ein wenig - er musste wohl wie ein Schaf aussehen, das im Kauen innehält -, dann legte sich plötzlich die vertraute Kühle über ihr Gesicht, und sie schaute konzentriert zum Fenster hinaus. Er schreckte auf, folgte ihrem Blick. Sie waren angekommen ! Er setzte sich hastig auf, glättete sein Gesicht, strich sich über den Kinnbart. Irian. Irian von und zu Echterdingen. Ein Page eilte über den gepflasterten Vorhof, um die Kutschentür zu öffnen. Lares erhob sich gemessen, stieg mit weichen Knien aus und hielt dann Zylya die Linke hin. Sie ergriff sie geziert und ließ sich aus der Kutsche helfen. Leicht wie eine Feder kam sie auf dem roten Teppich auf, der von hier aus zum Torbogen der Burg führte. Er führte sie einige Schritte von der Kutsche fort, deren Tür der Page nun schloss und die davonrumpelte. "Welch schreckliche Sonne", seufzte Zylya und fächerte sich Luft zu. " Keine Sorge, meine Dame, Ihr werdet bald im Kühlen sein", antwortete er charmant, während der den Herold erwartete, der emsig herangelaufen kam. Der Herold war in die Farben des Hauses gekleidet, ein ziemlich großer, dünner Mann mit rötlichem Haar. Nun verneigte er sich vollendet und sagte: "Willkommen auf Burg Hohenfels. Ihre Einladung, wenn ich bitte dürfte." Lares griff in seine Innentasche, deren Inhalts er sich während der Fahrt zum wiederholten Mal versichert hatte, und reichte das Pergament hinüber. Diese Einladung hatten sie Zylyas Kontakten zur Gemeinschaft der Mondschatten zu verdanken - nicht ohne gesalzene Gegenleistung, versteht sich. Der Herold verneigte sich erneut tief und fragte: "Wen darf ich melden ?" " Irian von und zu Echterdingen aus der Baronie Steinwacht, Grafschaft Angbarer See im Fürstentum Kosch, mit seiner bezaubernden Verlobten Mirinda vom Felswasser." Der Herold brachte das Kunststück fertig, den Kopf noch mehr zu senken und eilte ihnen dann voraus: "Wenn Sie mir folgen würden ..." Zylya hakte sich bei ihm unter, und sie schritten über den roten Teppich auf die Burg zu, ein finsteres Gemäuer mit klobigen Türmen, die zur Feier des Tages mit Blumengirlanden geschmückt waren. Hier fand eine Verlobung statt: Die Baroness zu Hohenfels würde in Bälde den ältesten Sohn des Grafen Gurdner von Ysilia ehelichen. Die Feierlichkeiten fanden trotz der spätesten Ereignisse, trotz der vernichtend verlorenen Schlacht von Eslamsbrück statt. Es war, als wollte der Adel beweisen, dass er trotz allem nicht in Gefahr war, trotz allem sich nicht zu der Welt dort draußen, die sich zusehends verfinsterte, zählte, mehr noch, ja, dass die Ereignisse hier nicht existierten. Existieren sollten. Ihre Nachforschungen hatten sie wiederholt auf die Baroness hingewiesen, und dieser Ball war eine gute Gelegenheit, sich auf der Burg auf der Suche nach dem Artefakt zu machen. Theoretisch sollte es hier sein. Am Eingang wurden sie von den Wachen mit aufmerksamen Blicken gemessen. Lares würdigte sie keines Blickes, während der Herold mit der Einladung zu dem bereitsitzenden Schreiber lief und die Namen in die Gästeliste eintragen ließ. Der Schreiber öffnete die Schriftrolle und musterte sie. Lares starrte geradeaus, spürte, wie Zylya hinüber zum Geschehen blickte, sich noch immer müßig Luft zufächelnd. Kurze Zeit später drückten ihre Finger ganz sacht seinen Arm: Alles in Ordnung. Bisher. Die Schriftrolle wurde verstaut, sie wurden weitergeführt, in den offenen, sonnenbeschienenen Hof, in dem bereits einige Paare mit ihrem Gefolge verweilten, helles, künstliches Lachen und Parfüm lagen in der Luft. Ein Springbrunnen auf einer gepflegten Rasenfläche spendete Kühle, festlich gewandete Menschen schritten durch den offenen Säulengang eine Etage höher. Es duftete nach Honigkuchen und Braten, Gewürzen und frischem Brot. Lares' Magen regte sich mit einem leisen Grummeln: Er hatte vor Nervösität noch nicht viel gegessen. Kaum betraten sie den Hof, wandten sich ihnen neugierige Gesichter zu: Damen mit aufwendigen Lockenfrisuren in Spitze und Seide, Herren mit gepflegten Bärten, geschminkten Wangen und weiten Krägen. Für einen Augenblick machte sich Lares Sorgen, ob sie die derzeitige Mode verfehlt hatten, aber das ließ sich eventuell darauf schieben, dass sie nicht von hier waren. Was ihm noch mehr Sorgen bereitete, war das offensichtlich rege Interesse, das man ihnen entgegenbrachte: Viele begannen zu tuscheln, und eine recht korpulente Dame mit einem runden Gesicht, gekleidet in wallendes Weiß, kam bereits auf sie zu. Er zwang sich zu einem Lächeln und blickte ihr so ruhig es ging entgegen. " Neue Gesichter, wie angenehm", sagte die Frau mit voller Stimme, als sie an sie herangetreten war. An ihrem feisten Handgelenk, in der sie den Fächer hielt, klimperten mehrere mit schweren Halbedelsteinen besetzte Armreife; ihr Gesicht war so stark gepudert, dass es fast so weiß wirkte wie das Kleid, das sie trug. Nichtsdestotrotz war sie keine unangenehme Erscheinung. "Ich bin Anell von Hohenfels, die Schwester der Baroness." Lares, der sehr erleichtert war, dass die Dame gleich dazugesagt hatte, wen sie darstellte, ergriff leicht die ihm dargebotene, behandschuhte Hand und neigte sich mit eine Kratzfuß darüber. "Es ist mir eine Ehre, Euer Hochgeboren." Er richtete sich wieder auf und stellte sich und Zylya vor. Die Dame nickte leicht amüsiert. "Ein Koschbaron, wie sprichwörtlich !" Sie lachte geziert. "Und dieser Kratzfuß, die ganz altehrwürdige Schule. Ich sehe, im Kaiserreich ist Form und Würde noch etwas wert. Dies ist gut zu wissen in solch schwierigen Zeiten." " Ja, Reichsbehüter Brin und die Obrigkeit tun wirklich ihr bestes, Adel und Volk einen gewissen Halt zu bieten. Dies ist durchaus beruhigend." " Durchaus, durchaus. Sagt, was führt Euch hierher, Herr von Echterdingen ?" " Oh, wir sind geschäftlich in Tobrien, Werteste. Ein Koschbaron, wie Ihr bereits so treffend anmerktet, muss sich um seine Finanzen bestens kümmern, um nicht völlig zu verarmen." " Oh, und worum genau geht es in diesen Geschäften ?" " Euer Interesse schmeichelt mir, Hochgeboren, aber ..." " Oh nein nein, ich bin nur mal wieder neugierig. Lasst nur, lasst nur." Wieder lachte Anell von Hohenfels, ihre blonden Papilloten wippten. "Ich und mein Mundwerk, es wird mir noch einmal zum Verhängnis." Lares warf Zylya einen kurzen Blick zu. Sie beobachtete die Schwester der Baroness mit glattem Gesicht, doch Lares kannte sie gut genug, um zu sehen, wie misstrauisch sie war. Er seufzte innerlich. " Und wie erfuhrt Ihr von dieser Feierlichkeit ?" fuhr Anell jetzt fort. " Mein Kammerherr erfuhr davon und redete mir ins Gewissen, doch etwas Kontakt mit dem hiesigen Adel aufzubauen. Ich bin für gewöhnlich kein leutseliger Mann, doch als ich hörte, dass es sich um eine solch hohe Verlobung handelt, konnte ich nichts unangenehmes daran finden. Ich bin bereits jetzt entzückt." Er lächelte sie an. " Haach", seufzte sie und fächelte sich in gespielter Scham Luft zu. "Ihr schmeichelt mir. Ich übernehme nur das undankbare Amt der Gastgeberin, solange meine hohe Schwester sich umkleidet." Sie wandte sich an Zylya. "Ihr habt Euch da mit einem Charmeur verlobt, Werteste. Ich würde an Eurer Stelle gut auf ihn acht geben, die Tobrierinnen sind so etwas nicht gewohnt." " Ich auch nicht" sagte Zylya leicht säuerlich und überspielte es dann rasch mit einem strahlenden Lächeln. "Ich meine, ich war es nicht." " Ach, habt Ihr euch schon daran gewöhnt ?" Bevor Zylya etwas antworten konnte, versetzte Lares rasch: "Aber meine Damen, ich hoffe doch sehr, dass Eure Herzen nicht so rasch gegen ehrliche Worte abstumpfen. Obwohl es bei der Fülle der Komplimente, die Ihr wegen Eurer Schönheit erhalten müsst, durchaus zu verstehen wäre." Anell kicherte wie ein junges Mädchen und verbarg ihr Gesicht vergnügt hinter ihrem Fächer. "Du meine Güte, nun reicht es aber. Macht einer alten Jungfer keine schönen Augen, sondern haltet Euch an das hübsche Mädchen an Eurer Seite." Zylya brachte es fertig, leicht verlegen auszusehen, was Anell offenbar erfreute. "Nun denn, dann will ich mich mal um unsere anderen Gäste kümmern, bevor ich hier vollends die Fassung verliere. Ich wünsche ihnen viel Vergnügen." " Herzlichen Dank." Anell von Hohenfels eilte davon, auf ein weiteres frisch eingetroffenes Paar zu, und kaum war sie außer Hörweite, krallte Zylya sich beinahe schmerzhaft in seinen Arm und zischte: "Was soll das denn ?! Wollten wir nicht unauffällig sein ? Aramis ! Aramis !" " Besser, ich benehme mich wie Aramis, als du dich wie Zylya ! Reiß dich mal zusammen und versuch wenigstens, freundlich auszusehen !" " So freundlich wie du oder was ? Soll ich mich irgendeinem wildfremden Mann an den Hals werfen ? ,Oh, Sir, diese strammen Muskeln sind ja so beeindruckend, darf ich mal fühlen, hach ...' Da wird einem ja schlecht !" " Mach doch, was du willst, mir doch egal !" " Genau, schmeiß dich an diese Anell ran, das ist mir auch egal !" " Fein !" " Fein !" Lares bemühte sich, seinen Ärger aus seinem Gesicht fernzuhalten, auch wenn es ihm schwerfiel. Auch das noch ! Als ob es ihm nicht schwer genug fallen würde, jemand anderes zu sein als er selbst. Nahm sie es jetzt am Ende für bare Münze oder was ? Auch wenn Anells Reaktion ihn ehrlich ein wenig überrascht hatte, so dick aufgetragen hatte er nun doch nun auch wieder nicht ... Meine Güte, Frauen ! Zylya lockerte ihren Griff etwas und setzte ein breites Lächeln auf, das ihn mehr an ein Zähnefletschen erinnerte. Er sah sich um, noch immer ruhten einige Blicke auf ihnen. Hoffentlich hielten sie es für gewöhnliche Eifersüchtelei oder was auch immer unter Verlobten, soweit man es gesehen hatte. Sie hatten sich ja kaum bewegt. Sie gingen in den Schatten des Säulengangs, wo einige Augenblicke später eine große, zweiflügelige Tür geöffnet wurde, aus dem höfische Musik erklang und in deren Ausschnitt Blumengestecke und Girlanden zu erkennen waren: der Festsaal. Die Gäste machten sich auf den Weg dorthin, strebten eifrig plaudernd und lachend ins Kühle. Sie waren schon selbst beinahe dort angekommen, als Lares' Blick, der müßig auf dem Säulengang im ersten Stock der gegenüberliegenden Hofseite geruht hatte, plötzlich eine Gestalt streifte. Für einen Moment blieb ihm fast das Herz stehen: Eine schwarze Kutte mit grauen Schmuckbändern, die von den Schultern fielen. Zhayad-Symbole glänzten auf ihnen, das Gesicht unter der Kapuze war nur ein vager Schatten, die Hände auf die Balustrade gestützt, stand der Mann - Mann ? - da, schaute in den Hof. Auf ihn ? Sah er ihn an ? " Was ist ?" fragte Zylya alarmiert, und Lares bemerkte erschrocken, dass er mitten im Schritt verhalten hatte. Eilig ging er weiter. " Magier", murmelte er ihr zu. Zylya schielte zu der Gestalt in der Kutte hinauf. " Sicher ? Kein Stab." " Das muss nichts heißen. Gewisse Leute haben ihren momentan auch nicht." Zylya schwieg kurz, dann flüsterte sie: "Erst mal keine Sorge. Selbst wenn es ein Magier ist, muss das nicht schlimm sein." Lares nickte zögernd, doch das ungute Gefühl in ihm wich nicht. Magier erkannten einander nicht ohne weiteres, doch wenn diese Person dort oben einer war, kannte er sich wahrscheinlich mit Akademiesiegeln aus. Unwillkürlich ballte er die rechte Hand zur Faust. Und dann diese schwarze Kapuzenrobe mit dem Zhayadschmuck ... er wusste, es war ein Klischee und ein Vorurteil, doch plötzlich hatte er Angst, einem Anhänger des Namenlosen oder Borbaradianer ausgeliefert zu sein. Er rief sich selbst zur Ordnung: Die Hälfte aller Magier trug schwarz, davon fast alle Mitglieder der schwarzen Gilde, die zwar für ihre Forschungsmethoden berüchtigt, aber nicht ime landläufigen Sinne böse waren. Zhayadsymbolde waren gerade auf Festtagskleidung sehr beliebt. Also, keine Sorge. Keine Sorge. Nach Mittagsmahl und diversen Ansprachen zum freudigen Anlaß der Verlobung weitete sich die Gesellschaft auf die weitläufigen Gärten aus. Für den Nachmittag war die Feier als eine Art Gartenfest geplant, die Gruppen flanierten durch die Anlagen, zwischen Wäldchen, Pavillons und Springbrunnen, zwischen Blumenbeeten und Buchsbaumrabatten. Einige blieben jedoch, der der Erntezeit eigenen herrschenden drückenden Hitze wegen, im Inneren der Burg, in deren Säulengängen es angenehm kühl war. Lares hätte gerne die Bibliothek gesehen. Er rechnete zwar nicht damit, dass sie besonders groß war, doch vielleicht beinhaltete sie einige seltene Folianthen, Geschichts- und Expeditionsberichte. Er hatte gehört, die von Hohenfels' hatten diesbezüglich eine recht bewegte Vergangenheit. Der Vater der Baroness selbst war zu einer Forschungsreise in das Eherne Schwert aufgebrochen - und nicht zurückgekehrt. " ... solch interessanter Punkt. Nicht wahr, Herr von und zu Echterdingen ?" Lares blinzelte, blickte zurück zu seinen beiden Gesprächspartnern. "Bitte entschuldigen Sie, werte Herren. Ich war kurz in Gedanken." Der ältere Herr, ein stark geschminkter Bohemién mit gefetteten Locken und pudrigem Geruch, lächelte nachsichtig, wenn auch ein wenig beleidigt. Er war Junker, Begleiter und wohl Anstandsberater eines der anwesenden Fürstensöhne - dem jungen, gelangweilt aussehenden und selbst recht langweilig seienden Hagen von Geißenstein, dem zweiten Mann in der kleinen Runde. " Ich sagte, dass die Architektur dieses Gartens von meinem werten Cousin ersonnen wurde. Er ist ein Genie, was die geschmackvolle Anordnung schmückender Pflanzen angeht. Ich wies besonders auf die sternförmige Zentralformation hin." " Ah", sagte Lares und bemühte sich, wohlwollend auszusehen. Der Junker nahm dies als Aufforderung, lächelte und fuhr fort: "Bedauerlicherweise wurde die Randarbeit bei Anbau dieser grässlichen Wachhäuser zerstört." Er wedelte mit seinem Spitzentaschentuch in Richtung der Mauern. Lares folgte seinem Blick mit neuerwachtem Interesse. Tatsächlich waren, offenbar in aller Eile, am Rande des Gartens, zu Füßen des Hauptwohngebäudes Hütten errichtet worden - sie sahen eher zweckmäßig als repräsentativ aus, und Lares fragte sich ernsthaft, warum man sie zum Anlaß dieses Festes nicht wieder fortgeschafft oder zumindest hergerichtet hatte, vor allen Dingen im Vergleich zu dem übrigen Prunk ... Sein Blick glitt die Wand des Hauses hinauf. Hohe, verglaste Fenster, mit schweren Brokatvorhängen dahinter. "Wer wohnt denn dort ?" " Oh, soweit ich weiß, sind das die Privatgemächer der Herrschaften von Hohenfels." Das war wichtig. Lares fühlte es, sein Sinn für diese Dinge, trainiert in den langen Jahren der Wanderschaft und Abenteurerei, sprang zuverlässig an, knüpfte Verbindungen und rechnete Wahrscheinlichkeiten und Unwahrscheinlichkeiten gegeneinander aus und ab wie ein Abakus. " Also ich meinerseits würde es ja nicht mögen, wenn die Wachhabenden direkt zu meinen Füßen leben, noch dazu in solch billigen Baracken. Und das am Tage meiner Verlobung, wenn jeder es sehen kann." Er schüttelte abfällig den Kopf. "Nicht zu vergessen, wie sehr es die natürliche Architektur dieses Gartens stört", pflichtete ihm der Junker bei. Hagen von Geißenfels gähnte. Lares musterte konzentriert die offenen Gänge im obersten Geschoß, dort, wo er den Zugang zu den Gemächern vermutete. Die Hitze machte seinem Verstand etwas zu schaffen, er wünschte sich einen Fächer, so wie Zylya einen hatte. Wenn dort oben ebenfalls verstärkt Wachen standen, konnte das Artefakt in den Privatgemächern der Baroness sein. Das verwunderte ihn etwas, er und Zylya hatten eher mit einer Schatzkammer gerechnet. "Ich würde mir den Gartenbau gerne etwas genauer ansehen", wandte er sich an den Junker, der geschmeichelt lächelte. "Aber gern, euer Hochgeboren. Was wünschen sie zu beschauen?" " Ihre Gesamtheit. Vielleicht von einem erhöhten Platze aus ?" Er wies auf die Säulengänge im obersten Stock. Der Junker machte einen halben Diener und breitete die Arme aus in Richtung seines Herrn aus. "Wie Ihr beliebt. Erlaubt, dass ich mich zurückziehe, euer prinzliche Erlauchtigkeit ..." Der junge Hagen winkte ihn mit einer gelangweilten Geste davon. Als sie die Treppen zur Burg hinaufstiegen, aus deren Gartentoren geschäftig Bedienstete mit gekühlten Bowlen, vollgeladenen Fruchtkörben und kleinen Happen eilten, versetzte der Junker: "Entschuldigt bitte meinen Herren, Herr von Echterdingen, er ist noch immer von Krankheit gezeichnet und eigentlich noch nicht bereit für eine solche Gesellschaft ..." " Er scheint überhaupt nicht bereit zu sein, seine Zunge zu lockern", antwortete Lares mit einem halben Lächeln. Unwillkürlich sah er sich nach Anell um. Vielleicht konnte ihm die Gunst, die er ihrerseits anscheinend irgendwie gewonnen hatte, nutzen, wenn es darum ging, in die Gemächer dort oben zu kommen ... Er hatte schon Zylyas Blick vor Augen: Brennend vor Verachtung, dazu ein bissiger Kommentar über seine Qualitäten als Charmeur. Er würde das gerne vermeiden. Seine Augenbrauen ruckten etwas zusammen. Sie war nach dem Mittagsmahl mit einer Gruppe Frauen verschwunden, nicht ohne ihm noch einmal einen gewissen - koketten ? - Blick über die Schulter zuzuwerfen. Seitdem hatte er sie nicht mehr gesehen. Vielleicht warf sie sich wirklich irgendeinem Grafen an den Hals. Er hätte vielleicht mit ihr absprechen sollen, dass sie sich nicht zu weit von ihm entfernte ... Andererseits, mit weiblichen Waffen kam sie vielleicht schneller an das Versteck des Artefakts als er mit Verstand. Er stellte sich Zylya im Arm eines der geschminkten Adeligen vor, lächelnd, fügsam. Der Gedanke gefiel ihm alles andere als gut. Aber das passte auch nicht zu ihr, sie warf sich keinem Mann an den Hals. Erst recht nicht irgendeinem aufgeblasenen Lackaffen. Obwohl ... er hatte ihr auch noch gesagt, sie solle nicht Zylya sein, sondern Mirinda. Wer weiß, wie Mirinda das hielt ... Hätte er doch die Klappe gehalten. Obwohl, Mirinda war doch sicher ein ehrenhaftes Mädchen .. aber na ja, immerhin ging es Zylya darum, irgendwie an Informationen zu kommen und ... "Fühlt ihr Euch nicht wohl, Euer Hochgeboren ?" fragte sein Begleiter besorgt. Lares wurde sich bewusst, dass sein Gesichtsausdruck inzwischen mehr als düster geworden war, und versuchte, dies mit einem raschen Grinsen fortzuwischen. "Ach, ich war nur in Gedanken." Was beschäftigte ihn das so ? Das war Zylyas Ding. Er machte seinen Job, und sie machte ihren. Egal wie. Ihre Sache ! Wieder das Bild, wo sie ihm Arm des Adeligen lag. Der Mann verwandelte sich in ein vertrautes Gesicht von der Sorte Männer, in deren Nähe er sie nicht sehen wollte: Aramis. Aramis ... Argh, es war ihre Sache ! Er kniff die Augen zusammen, vertrieb das Bild. Er hatte wichtigeres zu tun. Noch immer besorgt beobachtet von seinem Begleiter, erreichte er das oberste Stockwerk, ging stracks an die Balustrade. Er war leicht außer Atem und wütend auf sich selbst. Das war nicht der richtige Moment, um sich Gedanken um Zylyas Männergeschmack zu machen. Er sah auf die Gartenanlagen, und der Junker begann zu erklären. Aus den Augenwinkeln erfasste er die Silhouetten einiger Wachen, wie er es erwartet hatte. Aber er folgte dem weisenden Finger mit Blicken, nickte und hörte mit einem Ohr zu, aber mit dem Anderen horchte er in Richtung der Gemächer, die seiner Vermutung nach der Braut gehörten. Und tatsächlich hörte er etwas. Von der Wand gedämpfte Stimmen, erhobene Stimmen. Ein Streit. Eine Frauen- und eine Männerstimme. Die Baroness ? In seinem Kopf improvisierte sich ein Plan zusammen. Er richtete seinen Blick wieder auf die Gärten, suchte Anells runde weiße Gestalt. Er entdeckte sie schnell, sie war als einzigste in reines Weiß gekleidet. " Ich danke euch", sagte er mit einer leichten Verneigung zu seinem Begleiter, der geschmeichelt in seiner Erzählung innehielt, auch wenn er es offenbar bedauernswert fand, sich nicht weiter über die geometrische Anlage und die Stellung der Springbrunnen auslassen zu können. "Mir ist gerade etwas eingefallen, was mich wieder nach unten ruft. Ihr erlaubt ?" " Aber selbstverständlich." Sie gingen hinab. Lares legte ein relativ rasches Tempo vor, wobei er sich noch zurückhielt. Jetzt musste alles schnell gehen, aber er wollte auch nicht den Eindruck erwecken, als wolle er den Junker hinter sich lassen. Kein Aufsehen erregen. Nur kein Aufsehen. Unten angekommen, verabschiedete er sich von seinem Begleiter und ging hinüber zu Anell, wappnete sich, schickte ein kurzes Stoßgebet zu Hesinde, sie möchte seine Sinne klar beieinander halten. Anell von Hohenfels war im Gespräch mit einigen Damen: Zwei farblose Geschöpfe, die ohne ihre Kleidung und Schminke nicht durch irgendeine Besonderheit aufgefallen wären, und eine rothaarige, vollbusige Schönheit, die ihn kurz anerkennend eine Augenbraue heben ließ - und ihm dann einen vagen Schrecken einjagte: So schwer es möglich war - er hatte den Eindruck, sie schon einmal gesehen zu haben. Er war jedoch fast da, und jetzt stehen zu bleiben, hätte seltsam gewirkt. So trat er mit einem weltmännischen Lächeln in den kleinen Kreis. Anell drehte sich sofort zu ihm um und fasste sich mit der Hand an die Brust, als wäre sie zu Tode erschrocken, wenn auch nicht allzu negativ, denn sie strahlte ihn an. "Herr von Echterdingen ! Wie schön ! Kommt, ich stelle Euch vor." Sie nannte die Namen der Damen. Lares kannte keinen davon, auch nicht den der Rothaarigen: Yassia von Verborn. Das beruhigte ihn etwas. Vielleicht verwechselte er sie, oder sie sah jemandem ähnlich, den er kannte. Er bemühte sich, Freundlichkeit auszustrahlen, machte einige Komplimente, die die farblosen Schwestern zum Kichern brachten. Bei der Rothaarigen hielt er sich zurück - er wollte ihre Aufmerksamkeit nicht unnötig erregen. Er hatte ohnehin das Gefühl, dass sie ihn anstarrte. Nichts wie weg hier. " Ihr möget mit verzeihen, verehrteste Anell, doch ich bin bedauerlicherweise nicht gekommen um mit Euch und den reizenden Herrschaften zu plaudern. Wenn ich Euch kurz unter vier Augen sprechen dürfte ?" "Natürlich", antwortete Anell verunsichert. "Bitte entschuldigt mich", dann zu den Damen gewandt. Sie gingen einige Schritte bis zum nächsten Brunnen, Anell fächerte sich offensichtlich nervös Luft zu. Lares sah noch einmal über seine Schulter hinweg zu Yassia, vielleicht fiel es ihm doch noch ein... Sie sah ihm nach. Vielleicht hatte sie ihn ja auch erkannt. Verdammt, er hätte sich nicht umdrehen sollen ! " Nun ..." versetzte Anell zögernd. "Worüber wolltet Ihr mit mir sprechen ?" " Verzeiht, dass ich so indiskret zu sein wage, Verehrteste. Als ich eben auf der Empore war" - er wies auf besagte Stelle - "wo sich meines Wissens nach eure Gemächer befinden, konnte ich einem Streit lauschen. Und mir fiel ein, dass Eure Schwester seit dem Mittagsmahl hier unten nicht mehr zugegen war, und ich war in Sorge, ob ihr nicht vielleicht etwas passieren könnte ..." " Sie streitet ?" Anell wirkte leicht besorgt, schwieg einen Moment. "Ich bedaure, dass ihr das mitbekommen musstet, doch ich denke, es besteht kein Grund zur Besorgnis ... es sind genug Wachen dort oben, falls sie in Gefahr sein sollte. Sie braucht nur zu rufen." " Wenn sie schreit, mag es schon zu spät sein." Er ergriff ihre Hand, hob sie bis knapp vor seine Lippen. Sie hielt kurz die Luft an, überrascht, erwartungsvoll, und trotzdem stand in ihrem Gesicht Beunruhigung. "Anell." Die direkte Nennung ihres Vornamens, ohne den Titel, hatte die gewünschte Wirkung: Er sah förmlich, wie sie zugänglicher wurde, ihre Finger übten, wohl unbewusst, etwas mehr Druck auf seine aus. "Ich sehe Eure Besorgnis. Anscheinend sind meine Befürchtungen nicht ganz so gegenstandslos, wie Ihr es mich gerne glauben machen wollt. Ich bitte Euch, um Eurer selbst willen: Seht nach." Kurzes Zögern in ihren Augen. Dann holte sie tief Luft, nickte. "Ihr habt recht. Ein kurzer Blick kann nicht schaden." " Lasst mich Euch begleiten." Er ließ ihre Hand nicht los, hielt ihren Blick gefangen. " Oh nein, das ist doch nicht nötig ..." " Glaubt Ihr, ich lasse Euch allein in eine potentielle Gefahr laufen, auf die ich Euch noch selbst hingewiesen habe ? Nein. Wenn dort oben etwas nicht in Ordnung ist, seid ihr, wenn ihr hineinplatzt, genauso gefährdet wie eure Schwester. Ich werde mitkommen." Wieder zögerte sie. Hatte sie Angst ? "Nun gut", sagte sie schließlich, und wischte sich aktiv die Sorge mit der Maske der strahlenden Gastgeberin aus dem Gesicht. "Ihr könntet von einer Frau alles verlangen, Herr von Echterdingen." Sie zwinkerte ihm zu. Das wüsste ich, dachte Lares trocken. In diesem Moment fiel sein Blick über Anells Schulter hinweg auf eine Person, die dort offensichtlich schon eine Weile stand, ruhig den Fächer bewegend, ganz unbewegt, eiskalter Blick. Zylya. Hätte ihr Blick töten können, er wäre auf der Stelle tot umgefallen. Er zuckte zusammen, ließ Anells Hand los, die nun völlig in Gedanken loseilte, Richtung Hauptgebäude. Sie hatte Zylya nicht gesehen. Er konnte nicht bleiben, es ihr nicht erklären. Er musste weg. Er sah Zylya beschwörend an, dann wandte er sich ebenfalls um und folgte Anell. Hastig zupfte er ein Taschentuch aus seinem Ärmel und schüttelte es neben sich aus, bevor er es wieder zurücksteckte. Das war ein vereinbartes Zeichen, das Zeichen für "Ich habe eine Spur". Er hoffte inständig, dass Zylya es registriert hatte. Ansonsten lief er Gefahr des sofortigen Todes bei Rückkehr. Er folgte Anell ins oberste Stockwerk. Der Streit hatte offenbar tatsächlich noch nicht geendet; Anell verhielt kurz im Schritt, ging aber nach einem rückversichernden Blick nach ihm stracks zur Tür und klopfte. Die Stimmen verstummten, nach einigen Augenblicken ertönte ein erschöpftes "Herein". Anell öffnete und trat ein. Lares folgte ihr. Der Raum war ein zweiteiliges Gemach. Hier, im vorderen Teil, standen furnierte Holzmöbel, Sekretär, Sessel, Teetisch und Vitrinen mit allerlei Figuren und Pokalen, Geschirr und Bildern. Der Boden war mit einem tulamidischen Teppich ausgelegt, an den Fenstern hingen die schweren Brokatvorhänge, die Lares schon von außen gesehen hatte. Der hintere Teil war offensichtlich das Schlafzimmer, er konnte ein Stück eines Himmelbettes sehen. Die Baroness von Hohenstein war größer und schlanker als ihre Schwester, doch ihr Gesicht war gleich rund, die Locken von nahezu gleicher Farbe. Sie wirkte strenger, verlebter. Dies fiel besonders nun auf, wo sie fahl war vor Ermüdung. Gekleidet war sie in ein hochgeschlossenes, weißes Gewand von relativer Einfachheit. Die einzige andere Person im Raum war ein Mann von schwerer Statur und einem gepflegten, aber kräftigen Bart von der gleichen dunklen Farbe wie sein Haupthaar. Er war sehr repräsentativ gekleidet und augenscheinlich reich, denn er trug schwere goldene Ketten am Hals und an fast jedem seiner kräftigen, kurzen Finger einen Ring. Es war Graf Gurdner von Ysilia, der Vater des Verlobten der Baroness. Lares bemühte sich, im Hintergrund zu bleiben, als Anell nach der Schwester Wohlbefinden fragte, und sah sich um. Wo könnte das Artefakt hier versteckt sein ? Groß war es nicht. Vielleicht im Sekretär ... In diesem Moment ergriff der Graf ein Kästchen, das zwischen den Teetassen auf dem Tisch gestanden hatte, klappte es zu und ging damit ins Schlafzimmer. Das Kästchen ! Vielleicht enthielt es den Gegenstand des Streites. Vielleicht das Artefakt. Die Baroness sah ihm kurz nach, während sie ihre Schwester beruhigte und versprach, gleich nach unten zu kommen und nach den Gästen zu sehen. Sie würdigte Lares keines zweiten Blickes. Er war froh darüber. Er konzentrierte sich, glitt kurz hinüber in den Astralraum. Versuchte, die astrale Präsenz dieses Zimmers zu erfassen. Vielleicht gab es keine andere Möglichkeit, wieder in diesen Raum zu kommen, als durch einen Teleport. Er musste mit Zylya sprechen. Wenn sie mit ihm sprechen wollte. Verdammt, er machte hier seinen Job, nichts anderes, wieso dann dieser Blick ? Es war nicht seine Schuld, dass Anell in diesem Maße auf ihn reagierte, er wunderte sich ohnehin, wieso einige freundliche Worte und gewöhnliche, ja, gar etwas dick aufgetragene Komplimente solch eine Wirkung auf sie hatten. Er hatte nie diesen speziellen Effekt auf Frauen ausüben können, der sie einem in die Arme trieb. Muß am Titel und am Bart liegen - oder die Männer in Adelskreisen sind wirklich sehr langweilig, dachte er mit einem leichten Schmunzeln. Anell wandte sich nun wieder um, bedeutete ihm mit einer Handbewegung, dass er ihr folgen möge. Er machte einen angedeuteten Diener und ging ihr nach. Die Baroness hatte sich auf einem Stuhl niedergelassen und die Hand an die Stirn gelegt. Hoffentlich ging es ihr gut, und sie würde den Raum bald verlassen. Wenn sie hier drin blieb, hatte er schlechte Karten. Dann wäre zusätzlich noch ein Visibili nötig, noch dazu ein längerer wirkender, und vielleicht noch ein Blitz dich find, und dann wieder ein Teleport ... das zehrte an seinen astralen Grenzen. Als sich die Tür hinter ihnen schloss, griff Anell zu seinem Erstaunen nach seinem Ellenbogen, und er bot ihr hilfsbereit den Arm. "Ist alles in Ordnung, Verehrteste ?" " Ach, wisst ihr ..." Sie seufzte schwer. "Gespräche dieser Art führe ich nur ungern mit meiner Schwester ... sie reagiert so ... gereizt." " Ich verstehe", sagte er, auch wenn er nicht verstand, was sie meinte. Die Baroness war doch recht ruhig gewesen. "Nun, so vermute ich, dass alles in Ordnung ist ?" " Im Streit mit Gurdner wird es wohl kaum zu Handgreiflichkeiten kommen ... zumindest hoffe ich das. Alarmierend, dass so etwas noch vor der Hochzeit passiert." Sie sah unglücklich aus. " Was meint ihr, worum es ging ?" " Oh, ich weiß nicht. Vielleicht um Gurdners Begleiter. Besonders vertrauenserweckend sind die ja nicht. Oder um die Mitgift. Wißt Ihr, Gurdner ist ein gewissenhafter Landgraf, der mit seinem Geld durchaus haushalten kann, aber die Truppen, die sich in Ysilia sammeln, brauchen Nahrung und Unterkunft ... Kriegshaufen sind schlimmer als ein Heuschreckenschwarm." Lares versuchte ein Lächeln. "Den Wert dieser Erfahrung kann ich leider nicht verbuchen. Als ich aus Steinwacht abreiste, waren die Zeiten noch bedeutend ruhiger ... ich hoffe sehr, das mein Haus- und Hofmeister mit alldem zurechtkommt. Vielleicht werde ich schon sehr bald zurückkehren müssen." " Wie bedauerlich !" " Eure Anteilnahme schmeichelt mir." Er lächelte, sie ebenfalls. "Doch verratet mir doch, wen Gurdner mitbrachte, die euch so missfallen, dass ihr sie für den Grund des Streits eurer Schwester haltet." " Ach. Ihr habt sie doch sicher schon bemerkt, unheilvoll wie die hier herumstromern, ganz in schwarz, als wäre das eine Trauerfeier und keine Verlobung. Der seltsame Kerl in der schwarzen Kapuze und diese rothaarige Hexe von ..." Sie stockte abrupt und setzte ein Lächeln auf, schaute nach vorn. Lares folgte alarmiert ihrem Blick - oh ja, wenn man vom Teufel spricht ... Yassia von Verborn, gewandet in schwarze spitzenbesetzte Seide, kam mit langsamen, wiegenden Schritten auf sie zu, das Gesicht in einem unheilvollen Lächeln erstarrt. Lares fluchte innerlich. " Ah, Yassia, was tut ihr hier oben ?" fragte Anell fröhlich. "Ich hoffe doch, dass ihr euch wohlfühlt." " Durchaus, Gnädigste. Mir fiel nur ein, dass ich etwas mit eurem Begleiter zu besprechen hätte. Unter vier Augen." Ihre Stimme war leise und kalt, die letzten Worte sprach sie mit großem Nachdruck. Anells Lächeln gefror zu einer Maske, ihre Hand glitt von seinem Arm. Er hatte das Gefühl, ihm würde ein Schild abgenommen, nervös versuchte er, sich nichts anmerken zu lassen, sagte: "Ich stehe der Dame selbstverständlich zu Diensten." Anell sah ihn an, plötzlich verunsichert, ängstlich, als könnte er ihr etwas tun. Wahrscheinlich befürchtete sie, er hätte sie nur ausgehorcht und gehöre eigentlich zu Gurdners Leuten. Er hätte gerne gesagt, dass das nicht wahr war, aber sie trat schon rückwärts und eilte davon. Beklommen sah er ihr nach. Als wäre es völlig selbstverständlich, hakte Yassia sich bei ihm unter und schlenderte los, zog ihn mit freundlichem Druck mit. Er musterte ihr Profil, bemühte sich verzweifelt, die Lage einzuschätzen. Wer war sie ? Yassia von Verborn, verdammt, musste er den Namen kennen ? Er hatte allmählich den vagen Eindruck, dass er wirklich ihr bezüglich irgendetwas vergessen hatte. Irgendetwas wichtiges ... " Baron Irian von und zu Echterdingen ... nicht wahr ?" " Durchaus - ihr habt euch nicht im Mann geirrt." Er lächelte, und sie tat ihm den Gefallen, ebenfalls zu lächeln. Sie war wirklich sehr hübsch. "Was kann ich für euch tun ?" " Ach, ich fragte mich nur, wie es kommt, dass ihr mir so bekannt vorkommt. Woher könnten wir uns kennen ?" Ihr Lächeln war absolut glatt. Lares begann zu schwitzen. Verdammt, er hatte sich doch nicht geirrt. Tatsächlich gelang es ihm, ruhig zu bleiben, sich das überlegene Lächeln eines Mannes, der nichts zu befürchten hatte, zu bewahren. "Nun, vielleicht sind wir uns bereits auf einem ähnlichen Fest begegnet - obwohl es mich doch sehr wundern sollte, wenn ich mich an eine solch bemerkenswerte Frau, wie ihr es seid, nicht mehr erinnern kann." " Daran zweifle ich nicht. Ihr habt ja ein sehr offenes Auge für die Frauen. Selbst für Anell." Oha. Sie konnte man nicht einfach in Komplimente lullen. "Anell von Hohenfels ist eine sehr liebenswerte Person. Ich behandle sie nur, wie es ihr gebührt." " Sie ist auch noch nicht versprochen, falls Ihr Interesse habt." " Aber ich bitte Euch ! Vielleicht ist sie es nicht, aber ich bin es zumindest." " Ach ja - mit der kleinen Blonden, nicht wahr ?" " Mirinda vom Felswasser ist ihr Name." " Eine sehr resolute Person, wie mir scheint. Sieht euer Geplänkel nicht besonders gern, wenn ich mir den Eindruck erlauben darf." Yassia schwieg einen Moment, fächelte sich Luft zu. Lares musterte sie von der Seite. Worauf wollte sie hinaus ? Er hatte irgendwie das Gefühl, dass er auf dünnes Eis geführt wurde. "Liebt ihr sie denn ?" fragte Yassia weiter. " Nun, erstrangig beruht unser ... Arrangement auf wirtschaftlichen Gründen. Der Kosch ist eine arme Gegend." " Ja, ich weiß. Also liebt ihr sie nicht." Das Thema gefiel ihm nicht. "Wart ihr schon einmal im Kosch, Werteste ?" " Oh, ein oder zweimal." " Zu welchem Anlaß ?" " Zum Beispiel zur Hochzeit von Irian von Falkenhag." Ihn hätte es beinahe gewürgt. Die Hochzeit ! Das war es also ! Zylya und er hatten nicht ganz umsonst eine Identität aus dem Kosch gewählt, unter der sie hier agierten. Erstens waren Koschbarone selten außerhalb des Fürstentums anzutreffen - sie konnten es sich einfach nicht leisten - und zweitens waren sie als die Pantheonhelden auf dieser Hochzeit gewesen. So war es wahrscheinlich, dass, sollte hier ein Gast von dieser zugegen sein, man sie nicht verriet - als Held wurde man weniger verdächtig für böses oder eigennütziges Handeln. Aber diese Frau ... er spürte, dass sie ihm nicht freundlich gesonnen war. Und er spürte, dass sie selbst nicht ganz frei von der Leber weg sprach. Auch sie verbarg etwas vor ihm, so wie er etwas vor ihr verbarg. Ebenfalls ihre Identität ? " Ah ! Ein ganz wunderbares Fest." Sein Mund redete einfach weiter. Er war dankbar dafür. " Wirklich ? Ich habe Euch dort gar nicht gesehen." " Ich war dort. Fragt mich nur nach irgendeiner Einzelheit." " Ich zweifle nicht wirklich daran, dass ihr dort wart. Ich bezweifle bloß ... dass ihr ... Baron Irian von und zu Echterdingen wart. Denn der wurde mir vorgestellt. Und er sah ganz anders aus als Ihr." Lares blieb vor Schreck abrupt stehen. Ihr Gesicht war mit voller Aufmerksamkeit auf sein Gesicht gerichtet, er bemühte sich verzweifelt, eine Fassade zu bewahren. "Das kann nicht sein, Werteste." Seine Stimme zitterte leicht. Verdammt ! " Ich habe recht." Ihr Blick bekam etwas lauerndes, sie machte ein Schritt auf ihn zu - wobei er einen Schritt zurückweichen musste, wollte er nicht, dass sie gegen ihn stieß. "Ihr seid nicht der, für den ihr euch ausgebt ..." Noch ein Schritt. Wieder wich er zurück - und stieß mit dem Rücken gegen die Wand. Er konnte den Impuls nicht unterdrücken, sich nach einem Fluchtweg umzusehen .... Lares ! Jetzt reiß dich zusammen, Idiot ! Gerat nicht in Panik ! Er sammelte sich mühsam, setzte zu seiner Antwort an ... und stockte. Denn sie machte sich an den Knöpfen seines Rockes zu schaffen, öffnete sie mit raschen, geschickten Fingern. "Äh ..." brachte er hervor, verstand nicht, wie ihm geschah. Sie schlug den schweren weinroten Samtstoff auseinander, machte noch einen Schritt vor. Ließ ihn deutlich spüren, was sie hatte. Ihre Fingerkuppen, beziehungsweise ihre lackierten Nägel, gruben sich halb zärtlich, halb besitzergreifend in seine Seiten. Ziemlich weit unten. "Äh ..." wiederholte er, war viel zu überrumpelt, um zu reagieren. Das war das letzte, womit er gerechnet hatte. Außerdem passierte so was sonst höchstens in seinen Träumen. Sie hob das Gesicht, ihr Atem streifte seinen Hals. Ein Schauer jagte über seinen Rücken. "Hört zu ..." Ihre Stimme war leise, nahe bei seinem Ohr. "Ich weiß nicht, wer ihr seid. Aber ich weiß, dass auf Betrug ziemlich hohe Strafen stehen ... und dann direkt hier, inmitten der Betrogenen, enttarnt zu werden ... ihre Angst ... ihre Anspannung könnte sich direkt an Euch entladen ..." Sie ließ eine ihrer Hände seine Brust hinaufgleiten, fest, fordernd. Ihm stockte der Atem, war immer noch vor Überraschung nicht fähig, sich zu bewegen, verdammt, was war hier los ? " Was ... ?" brachte er hervor. " Ganz einfach", sagte sie. "Eine Hand wäscht die andere ... ich behalte Euer kleines Geheimnis für mich ... und Ihr ..." Schritte. Laute, feste, fast ein Stampfen. Dann: "Irian !!!", hervorgestoßen, mit vor Entrüstung und Wut brechender Stimme. Zylya. Er wandte erschrocken den Kopf, ebenso wie Yassia, die nicht minder stark aufgeschreckt war und sich nun etwas aufrichtete, aber immer noch bei weitem zu nahe bei ihm stand, um den Abstand unverfänglich wirken zu lassen. Oh nein ... er wollte gar nicht wissen, wie das aussah. Er wusste nicht, was er zu seiner Verteidigung vorbringen sollte. Das einzigste, was seinem schocklahmen Verstand einfiel, was am nächsten an der Wahrheit war, war der abgedroschene Spruch "Das ist nicht, wonach es aussieht". Und er hatte genug Romane gelesen, um zu wissen, dass dieser meist nach hinten losging. Also stand er da, öffnete ein paar Mal den Mund, um zum Sprechen anzusetzen, und schloss ihn unverrichteter Dinge wieder. Irgendwann kam er auf die Idee, seinen Rock wieder zuzuknöpfen. Yassia verschränkte die Arme wirkungsvoll unter ihrem Busen und musterte Zylya, auf deren Wangen rote Flecken brannten. Ihr Blick war kühl, abwertend und berechnend, sie schien sich nicht im geringsten zu schämen. Aber in ihrem Blick lag nur gespanntes Misstrauen, kein Erkennen - noch nicht ... Lares hatte das dringende Bedürfnis, von hier weg zu kommen, mit Zylya zu sprechen, es ihr zu erklären. Aber wie ? " Irian, kann ich mal mit ... Euch sprechen ?" Zylyas Stimme war hart und spröde wie blanker Stahl, und zusammen mit dem kaum merklichen Stocken vor der formellen Anrede ließ sie ihn zusammenzucken. "Selbstverständlich, Verehrteste", antwortete er, ohne sie ansehen zu können. Seine Stimme klang belegt. Er schloss den letzten Knopf und bot Zylya dann den Arm - nicht ohne noch einen nervösen Blick auf Yassia zu werfen, die allerdings keine Anstalten machte, irgend etwas zu unternehmen. Ihre vollen Lippen waren zu einem spöttischen Lächeln verzogen. Seine Nackenhaare stellten sich in einer Mischung aus Erregung und Grauen auf, als er daran dachte, was vielleicht passiert wäre, wenn Zylya nicht gekommen wäre. Sie griff forsch nach seinem Arm und zog ihn mehr mit sich, als dass sie sich sittsam führen ließ, die Treppe hinab und um die Ecke. Seine Aufregung ebbte allmählich ab, sein Verstand begann wieder zu arbeiten. Was hätte Yassia von ihm als Gegenleistung verlangt ? Inwieweit hatte sie ihn überhaupt erkannt ? Inwieweit hatte sie seines und Zylyas Gesicht einordnen können, wenn sie auch auf dem Hochzeitsball in Schloss Grauenstein zum Angbarer See gewesen war ? Er musterte Zylyas Gesicht von der Seite, die hektischen roten Flecken auf Wangen und Hals, den halb ins Leere gerichteten Blick. Sein Herz machte einen seltsamen Sprung - war sie wirklich eifersüchtig ? Sein Verstand fing diesen Gedanken ab wie ein Schild einen Schwerthieb. Es war einfach gefährlich gewesen, es hatte sicher ausgesehen als wäre Yassia ihm auf der Spur - und damit ihrer beider Tarnung. Er holte tief Luft und sagte dann halblaut: "Danke. Du hast mich gerettet." " Das habe ich gesehen", stieß sie zwischen den Zähnen hervor, ohne ihn anzusehen. " Sie hat uns erkannt", fuhr er leise fort. "Das heißt, sie weiß, glaube ich, nicht, wer genau wir sind, aber sie weiß zumindest, dass ich nicht Irian von und zu Echterdingen bin. Sie war auf dem Ball in Angbar." Zylya sog zischend die Luft ein. "Verdammt !" Ihr Gesicht war düster, Lares hoffte, dass es vom Nachdenken kam, und nicht, weil sie böse auf ihn war. Sie schwieg eine Weile, bis sie die Gärten wieder erreicht hatten. Die Sonne strahlte noch immer, höfliches Geplapper füllte die Luft, die schwer und unbewegt wie eine feuchte Decke über der Gesellschaft lag. Lares' Blick fiel wieder auf die unschönen Wachbaracken, und ihm fiel ein, wieso er eigentlich dort oben gewesen war. "Ich glaube, dass, was wir suchen, befindet sich in den Gemächern der Baroness", sagte er leise. "Ich war mit Anell dort ..." " Und ich dachte schon, du wolltest sowohl weiß als auch schwarz ausprobieren", antwortete Zylya bissig und sah prompt noch verärgerter aus. Er blinzelte, brauchte einen Moment, bis er verstand, worauf sie anspielte. "Jetzt sei nicht albern !" Seine Stimme klang schärfer, als er beabsichtigt hatte - und lauter, einige Leute wandten ihnen kurz den Kopf zu. Er spürte, wie sich die Härchen an seinen Unterarmen aufstellten. Er senkte die Stimme. "Erstens: Nenn mir eine bessere Möglichkeit, an die Baroness heranzukommen, als Anell !" " Nimm sie doch gleich persönlich", zischte Zylya. " Sie ist die Braut ! Wie stellst du dir das vor ?! So ein Quatsch ! Zweitens, Charissia..." Er sprach den Namen völlig gedankenlos aus - und damit, was er die ganze Zeit gesucht hatte. Die Gewissheit, diese Frau zu kennen - namentlich. Charissia von Salming zu Dunkelforst . Die Frau, die hinter den den Giftanschlägen auf die Adeligen im Schloss Grauenstein zum Angbarer See gesteckt hatte, während der Hochzeit von Arethas Bruder. Die Borbaradianerin, in deren Diensten Aramis gestanden hatte. Er blieb wie angewurzelt stehen, spürte, wie er erbleichte. Zylya hatte nicht damit gerechnet, dass er so plötzlich stocken würde, drehte sich, immer noch wütend, um. Als sie sein Gesicht sah, glätteten sich ihre Züge, erst in Verwirrung, dann in Erkenntnis, als sie den Namen, den er genannt hatte, einordnete. "Phex", hauchte sie. Sie starrten sich an. " Wir müssen hier weg", sagte er irgendwann, und in ihrem Grauen brachte sie nicht mehr fertig, als zu nicken. Sie flanierten weiter, beide mit fahlen Gesichtern. Lares' Gedanken rasten, spielten die Szene im dritten Stock durch. Charissias Worte, ihre Blicke. Ihren unvermittelten Übergriff. Nein, sie hatte gesagt, sie wüsste nicht, wer er sei. Aber vielleicht hatte Zylyas Gesicht ihrem Gedächtnis auf die Sprünge geholfen. Sie war ja immerhin auch ähnlich gekleidet wie auf dem Ball. Andererseits hatte sich hauptsächlich Aramis mit ihnen beschäftigt, nicht Charissia persönlich ... Aramis. Sein Mund verzog sich. Wie immer, wenn er an diesen Mann dachte, ballte sich etwas in ihm zusammen, selbst jetzt noch, nach über einem Jahr, und obwohl dieser sicher hinter Schloss und Riegel saß ... Ein unangenehmer Gedanke drängte sich ihm auf. Konnte er sich dessen überhaupt so sicher sein ? Er hatte schließlich nie etwas über Aramis' Schicksal gehört, nachdem dieser in die Kutsche nach Gareth gesetzt worden war, wo er sich der Gildengerichtsbarkeit gegenüber verantworten sollte. Vielleicht war er nie dort angekommen... Immerhin war Charissia entkommen, und, wer weiß, vielleicht hatte sie ihren Komplizen befreit ... Sagte Anell nicht, dass Charissia eine der beiden schwarzen Gestalten war, die Gurdner, der Vater des Bräutigams, aus Ysilia mitgebracht hatte ? Und trug der andere nicht eine mit Zhayadsymbolen verzierte Robe ? Vielleicht war es ja Aramis, der sich in den Schatten des schwarzen Stoffes verbarg ... Sie näherten sich einem schattigen Teil des Gartens, der von Menschen ob seiner Kühle recht leer war. Mit gesenkter Stimme erklärte Lares Zylya, was er befürchtete. "Selbst wenn Aramis mich nicht erkennt ..." - er zupfte erläuternd an seinem Haar und dem Bart - " ... dich erkennt er ganz sicher. Außer, er hatte so viele Frauen, dass er sie nicht mehr auseinanderhalten kann." Er schaffte es nicht ganz, seine Abneigung gegen Aramis aus seiner Stimme herauszuhalten, was ihm einen kurzen, aber glücklicherweise unkommentierten Seitenblick von Zylya einbrachte. "Könnte sein", sagte sie, Unbehagen schwang in ihrer Stimme mit. "Du sagtest, das Artefakt ist in den Gemächern der Baroness ?" "Ich sagte, es könnte dort sein." Er erzählte ihr von dem Schmuckkästchen, und sie nickte, auch wenn sie seinen Verdacht scheinbar für nicht allzu gefestigt hielt. "Ich komme notfalls mit einem Teleport ins Zimmer, falls ..." " Nein", sagte sie schnell. "Was, wenn es nicht dort ist ? Und überhaupt, raus teleportieren müsstest du dich dann auch. Wohin, ohne dass dich jemand bemerkt ? Außer, ganz nach draußen ?" Sie machte eine Handbewegung über die Mauer hinweg. "Und was sagst du, was du im Zimmer der Baroness machst, wenn jemand reinkommt, um nachzusehen, was da so einen Höllenlärm veranstaltet?" Sie warf ihm ein schnelles Lächeln zu. "Lass mich das machen." " Und was willst du tun ?" fragte er, leicht verdrießlich, weil sie schon wieder darauf herumritt, dass er manchmal gegen Dinge lief, wenn er auf etwas anderes konzentriert war. Sie wies wie zufällig mit dem Fächer auf eines der Dienstmädchen, das in der Nähe die Dekoration auf einem Tisch arrangierte. Lares musterte es. Die Idee war nicht schlecht. Keiner schenkte den emsigen Dienstboten Beachtung, nicht einmal er hatte es getan. " Gut", stimmte er halbherzig zu. "Aber wie willst du an den Dress kommen ?" " Lares", sagte sie mit einem Zwinkern. "Du vergisst, wer ich bin." Die Vorbereitungen waren schnell getroffen. Sie sprachen sich ab: Zylya sollte ins Zimmer gehen, Lares würde draußen Wache halten und im Falle der Gefahr - welcher Art diese Gefahr sein sollte, ließen sie offen - den Rapier fallen lassen. Das Scheppern der metallenen Parierstange sollte in den Steingängen gut zu hören sein. Sie trennten sich am Fuß der Treppen. Lares stieg ohne Eile nach oben, wagte nicht, daran zu zweifeln, dass Zylya sich rasch und unbemerkt von einer festlich gekleideten Adligen in ein nichtssagendes Dienstmädchen verwandeln konnte. Sie würde das schaffen, und sei es nur, um es ihm zu beweisen. Wenn er so darüber nachdachte, wollte er gar nicht allzu genau wissen, wozu sie alles fähig war und wozu nicht. Bisweilen sprach ihr Verhalten, ihr Blick von einer Skrupellosigkeit, die ihm einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Ja, sie war anders als er, sie war völlig anders aufgewachsen, in einer ungeschützten Umgebung, in der das Rauben, Stehlen und Töten beinahe selbstverständlich war. Wenn sie es für die sicherste Methode, unbemerkt zu bleiben, hielt, tötete sie. Fertig. Er hoffte inständig, dass sie keinem der Dienstboten etwas zuleide tun würde. Oben angekommen, trat er seufzend an das Geländer und sah hinab in den belebten Garten. Kühler Wind strich über sein Gesicht, durch die weichen Härchen an Kinn und Wangen. Gedankenverloren hob er ob des ungewohnten Gefühls die Finger an den kurzen Bart. Irgendwie sehnte er sich danach, ihn wieder loszuwerden. Es hatte Zeiten gegeben, in denen er sich gewünscht hatte, er könnte sich einen dichten, drahtigen Bart stehen lassen, so einen, wie ihn sein Vater trug. Die almadanische Blut der Familie seiner Mutter hatte dies jedoch zu verhindern gewusst - fast keiner der Männer dort hatte starken Bartwuchs, und so hatte auch er wenig. Er musste sich kaum rasieren, und es hatte Ewigkeiten gedauert, bis er diesen Bart hatte. Zylya hatte einige Löcher noch an diesem Morgen mit schwarzer Farbe ausgemalt. Aber jedes Mal, wenn er sein Spiegelbild in einem Fenster, in einer Wasserschale sah, erschrak er vor sich selbst, sah nichts als einen strengen, fremden Mann. Einen Mann, der er nicht sein wollte. Er spürte plötzlich die Anwesenheit der gerüsteten Wachen, die in diesem Stockwerk noch allgegenwärtiger waren als im Rest des Schlosses, stärker, empfand sie als bedrohlicher, fühlte sich schutzlos, bedeutungslos... vielleicht, wenn irgend etwas schiefging, würde er hier sterben, sterben und sofort vergessen werden. Ein gefasster Eindringling und Dieb, nicht mehr. Schließlich standen ihm seine Gründe nicht auf der Stirn, keine sichtbare Rechtfertigung, die je jemand erfahren würde. Der KGIA machte ihn zu einem namenlosen Schatten, der funktionierte, bis er ausgelöscht wurde. Von einem Schatten blieb nichts übrig. Diese Gedanken beschwerten seinen Mut. Aber er konnte nicht einfach aufhören, musste weiter seine Rollen spielen, wenn er hier unbehelligt wieder hier rauskommen wollte, um Bart und Verkleidung loszuwerden, wieder er selbst sein zu dürfen. Ein Schemen bewegte am Rande seines Blickfeldes: Ein Dienstmädchen mit einem Wäschekorb kam flink die Treppe herauf, warf ihm einen kurzen, grauäugigen Blick zu. Zylya. Er versuchte, desinteressiert auszusehen, als er ihr nachblickte, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder den Gärten widmete. Er war froh, dass sie da war. Er wusste, sie würde weitermachen, was da auch käme. Und das gab ihm neuen Mut. Sie verschwand ohne zu zögern im Zimmer der Baroness. Müßig zupfte er das Spitzentaschentuch aus seinem Ärmel und tupfte sich die Stirn damit ab, weniger, weil er schwitze, mehr, um seine Finger zu beschäftigen. Hoffentlich hatten sie alles bedacht. Sowohl die Baroness als ihre Schwester Anell konnte er zwischen den Springbrunnen und Blumenrabatten entdecken, nicht so aber Charissia. Das beunruhigte ihn wirklich, auch wenn es eher beruhigend sein sollte, sie nicht in der Nähe Gurdners zu sehen, der sich beim Buffet aufhielt. Aber wo war sie dann ? Immerhin hatte sie ihm mit Verrat gedroht ... Verrat an wen, wenn nicht an Gurdner ? Kapitel 2: Lares vs. Galotta ---------------------------- Lares vs. Galotta Lares. Rondra 27 Hal. Es war eher eine plötzliche Ahnung, als dass er wirklich etwas spezielles bemerkt hätte. Vielleicht war sie durch winzige Bewegungen der Wachen ausgelöst worden, durch das Unbehagen, das plötzlich in der Luft lag ... Als er den Kopf wandte, stand am Treppenaufgang der Mann in der schwarzen Robe. Der Stoff glänzte seiden, die Schatten in der Kapuze waren so tief, das nur auf das kräftige Kinn und den schmallippigen Mund ein wenig Licht viel, ein diffuses Unlicht, das den Anschein vermittelte, als wäre die Haut von einer rötlichen Tönung. Als wäre das Gesicht in Blut getaucht. Lares schluckte, seine Augen flogen über das Zhayad. Was bedeuteten die Zeichen ? Er wünschte sich nicht zum ersten Mal, er hätte Kurse in der Magier-Geheimsprache belegt, als er noch in Belhanka lernte - anstatt dessen hatte er sich für lebende, gesprochene Sprachen entschieden ... Er hatte kein verstaubter Bücherwurm werden wollen, dessen Welt auf Papier gebannt war und in abgehobenen Beschwörungen bestand, aber manchmal ... manchmal war klassische Bildung wohl nicht zu verachten. Er sog kurz die Luft durch die Zähne, als litte er Schmerzen. Jetzt war es, zunächst mal, zu spät. Der Träger der Robe war recht klein und hielt die Schultern auf eine Art und Weise, die ausdrückte, dass er nicht mehr allzu jung war ... Lares konnte ihn nicht einordnen, aber eines war ganz deutlich: Dieser Mann war nicht Aramis. Und er war nicht ohne Grund hier oben. Lares zwang sich zu einem höflichen Nicken und dann dazu, sich unbeteiligt abzuwenden. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Die winzige Chance, dass der Magier nicht wegen ihm hier oben war. Dass er nicht von Charissia geschickt worden war. Oder dass sie ihn nicht gut genug beschrieben hatte. Alles, was er tun konnte, war teilnahmslos auszusehen. Schritte, leicht auf dem Marmorboden. Die schwarze Gestalt schob sich neben ihn, nahe, in Gesprächsnähe. Angst kroch mit kalten Fingern an Lares hinauf, langsam, unaufhaltsam wie Wasser in einem untergehenden Schiff. " Ignorantes Pack." Ein leises Geräusch, das ein Kichern darstellen könnte, folgte diesen Worten aus der Kapuze. Die Stimme war trocken und spröde wie gealtertes Pergament. "Der Adel war im Wegsehen schon immer gut. Das Volk, ihre Vasallen und Untertanen werden niedergemacht, und das blaue Blut feiert, dessen ungeachtet." Lares wusste nicht, ob von ihm eine Antwort erwartet wurde. Er entscheid sich dagegen, als sein Gegenüber wieder seltsam lachte und sich ihm die Schatten in der Kapuze ein wenig zuwandten. "Was versprecht Ihr Euch wohl davon, hier zu sein ? Weshalb geht Ihr das Risiko ein, Euch im Schafspelz unter die Herde zu mischen ?" Sie hatte ihn verraten. "Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht, Hochgelehrter", kam es lahm über seine Lippen. " Hochgelehrter", wiederholte der Mann leicht amüsiert. "Gebildet seid Ihr ... Ihr haltet mich für einen Magier, nein, gar für einen Magus ... Ihr kennt Euch aus mit Gildenetikette ?" Ein gedanklicher Fluch. "Wie es sich für einen Mann meines Standes geziemt." " Ah. Und was für ein Stand soll das sein ?" Lares bemühte sich um äußere Ruhe, um Gelassenheit. Pokern. Es blieb ihm nichts als zu pokern. "Ich bin ein Baron, Hochgelehrter. Ich weiß nicht, was Euch daran zweifeln lässt." Einen Moment herrschte Schweigen, gespannte Stille wie vor dem Donner, wie vor der Urteilsverkündung bei Gericht ... Dann schüttelte der Magier beinahe unmerklich den Kopf, und Lares wusste, er hatte das Spiel verloren. " Mutig", sagte die papierne Stimme. "Mutig, aber dumm." Der Mann winkte nahezu beiläufig mit der Linken, und zu Lares' Schrecken nahmen alle Wachen auf der Etage Haltung an. Befehligte er etwa all diese Männer ? Ein leises Klacken hinter seinem Rücken. Ein Türschloss. Lares drehte sich erschrocken um. Zylya stand im Türrahmen der Privatgemächer, mitten in der Bewegung erstarrt. Ihr Blick flog über die Anwesenden, schätze die Situation ein. Lares starrte sie an; wie konnte er sie warnen, ohne sie in Gefahr zu bringen, wie konnte er sie von hier fort schaffen, ohne sie anzusprechen ? Alles, was sie an Signalen abgesprochen hatten, würde bemerkt werden, es war sogar schon zu auffällig, sie auf diese Weise anzusehen, wollte er ihre Identität schützen. Unter Aufbietung all seiner Willenskraft hielt er sein Gesicht, die Augen emotionslos, wandte sich wieder ab. Seine Gedanken flogen zu ihr. Hau ab, verdammt ! Hau ab ! Der Magier hatte sich ihm zugewandt, Zylya kaum angesehen. Er war kleiner als Lares, aber trotzdem wirkte es nicht, als würde er zu ihm aufschauen, nein, er blickte definitiv auf ihn herab, als seine Stimme durch den Raum glitt wie Schlangenhaut über rauen Stein. "Blockiert den Treppenaufgang. Ich will niemanden hier oben sehen, bis ich das Gegenteil anordne." Obwohl er die Wachen nicht einmal angesehen hatte, setzten sie sich sofort in Bewegung, strömten zur Treppe, und binnen Sekunden war der gesamte Gang leer. Auch Zylya war verschwunden. Langsam sickerte es durch Lares' Bewusstsein: Er war jetzt mit diesem Mann völlig allein. Was immer hier geschehen sollte, es würde keine Zeugen geben. Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück, hob eine Hand, um, falls nötig, zu einer Zaubergeste ansetzen zu können. Er fühlte sich schutzlos ohne seinen Stab, irgendwie beschnitten. Er hätte gerne einen Gardianum gesprochen, aber ohne einen Magierstab dauerte es zu lang, um daran ungehindert zu bleiben, und außerdem wollte er nicht seinen einzigen Trumpf preisgeben: Wer er war. Oder besser, was er war. Falls sein Gegenüber das nicht schon längst wusste. Der Magier ließ einige Augenblicke verstreichen. Lares wurde immer nervöser, dachte Dutzende von Möglichkeiten, dieser Situation zu entkommen, an und verwarf sie wieder. Dann die leisen, ruhigen Worte: "Warum seid Ihr hier ?" Die Drohung dahinter war unverhohlen. Das und die Tatsache, dass es nichts nutzen würde, sich weiter als Baron auszugeben. Aber inwieweit wusste der Magier über ihn Bescheid ? Und was sollte er schon sagen ? Dass er im Auftrag des KGIA hier war, um ein Artefakt zu stehlen, bevor es in Reichweite der Borbaradianer kam, also vermutlicherweise zum Beispiel in die seines Gegenübers ? Dass er nicht wusste, um was für ein Artefakt es sich überhaupt handelte, sondern dass er nur grob wusste, wie es aussah ? Über Lares' Gesicht schlich sich ein schmales Lächeln. Galgenhumor. Er schwieg. Eine Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Eine knappe Handbewegung des Magiers, und hinter Lares' Stirn explodierte ein reißender Schmerz, so tief und scharf, dass er einen Schmerzensschrei nicht unterdrücken konnte. Weißes Licht gleißte vor seinen Augen, für Herzschläge orientierungslos taumelte er einen Schritt zurück. Ein heftiger Stoß traf ihn an der Brust, bevor er sich wieder fangen konnte, er verlor das Gleichgewicht und stürzte hart, konnte sich gerade noch mit den Händen abfangen. Der Schmerz in seinem Kopf flachte ab, beinahe so schnell, wie er gekommen war, hinterließ jedoch ein seltsam taubes Gefühl, das anzeigte, dass es sich nicht um Phantomschmerzen gehandelt hatte. Eine Verletzung, eine schwere Wunde, in seinen Geist gerissen. Fulminictus. Als er endlich wieder sehen konnte, ragte die Gestalt in der schwarzen Kutte über ihm auf, ein Schatten vor dem Himmel. Lares' hörte seinen eigenen, zitternden Atem, Angst riß an ihm, lähmte ihn. Was sollte er tun ... sich wehren, ein Magierduell beginnen, das aller Wahrscheinlichkeit nach damit enden würde, dass er unterlag, den Rapier ziehen, den er nicht führen konnte ? Versuchen, zu fliehen, den Wachen in die Arme oder, treffender, in die blanken Schwerter laufen ? Wenn er nicht vorher von einem Ignifaxius zu Asche verbrannte wurde ? "Wer seid Ihr ?" wiederholte der fremde Magier in gefährlich leisem Tonfall. "Weshalb seid Ihr hier ?" Lares schloss kurz die Augen, seine Gedanken rasten. Zylya. Er musste den Kerl von der Tür zum Zimmer der Baroness ablenken, damit sie fliehen konnte, musste ihn so lange beschäftigen, dass sie genügend Zeit hatte, zu entkommen. " Ihr habt recht", sagte er. "Ich bin nicht Echterdingen. Aber ich bin nicht hier, um Euch oder dieser Gesellschaft zu schaden." " Ach ja ?" Ein schmales Lächeln unter der Kapuze, gebogen und blitzend wie ein blankes Messer. "Und weshalb dann ?" Lares versuchte aufzustehen, eine Hand einhaltgebietend erhoben. Der Mann ließ ihn gewähren, er hatte scheinbar zumindest sein Gehör gefunden. "Das Mädchen, mit dem ich hier bin. Mirinda. Sie glaubt, ich bin es. Und ihr Vater glaubt es auch. Wir werden bald heiraten, und ihre Mitgift wird meine finanziellen Sorgen beheben." Das war die Erklärung, die er und Zylya für den Fall vorbereitet hatten, dass einer von ihnen auf diese Weise aufflog. Die Folgen blieben recht überschaubar, da man erstrangig einander betrog. Er hoffte inständig, dass seine Stimme fest genug klang, dass ihm der Magier diese Lüge abkaufte. " Finanzielle Sorgen", wiederholte dieser in seltsamer Tonlage. " Spielschulden", fügte Lares hinzu. " Wie ... pragmatisch. Und was ist nach der Hochzeit ? Irgendwann wird sie es herausbekommen." " Vorher wird sie unglückseligerweise erkranken." " Und wird ihr Vater nicht misstrauisch werden ?" Lares zuckte mit steinernem Gesicht die Schultern. "Damit werde ich fertig. So oder so." " Eure Schulden müssen hoch sein, wenn Ihr solche Risiken eingeht." " Sind sie. Und meine Gläubiger warten nicht gern." " Schlimme Situation für einen Pantheonhelden." Lares blieb beinahe das Herz stehen. "Was ?" Der Magier grinste. "Keiner der Pantheonhelden ist ein Spieler, nicht einmal die kleine Diebin, die Ihr so bemüht als reiches Gutstöchterlein auszugeben versucht. Gute Geschichte, die ihr da habt ... aber nicht gut genug!" Der zweite Angriff erfolgte fast bevor er überhaupt zu Ende gesprochen hatte. Lares blieb nicht einmal die Zeit, richtig aufzunehmen, was überhaupt geschehen war, bevor wieder Licht vor seinen Augen aufflammte, so blendend hell und allumfassend, dass er zu keiner Handlung mehr fähig war. In Erwartung des Schmerzes, der da kommen musste, krümmte er sich ... aber er blieb aus. Kein Fulminictus. Ein Blitz dich find. Als ihm das klar wurde, war es jedoch schon zu spät. Ein übler Schlag mit einem harten Gegenstand traf ihn seitlich am Kopf, die Wucht riß ihn zur Seite, die Welt verlor für Momente ihre Festigkeit, glitt aus den Fugen, tanzte um ihn herum. Schmerz raubte ihm für Augenblicke die Fähigkeit, seinen Körper zu kontrollieren. Er spürte den Aufprall auf den Boden kaum, seine Schultern und sein Hinterkopf kollidierten hart mit dem kalten Marmor. Die Welt wurde für Momente farblos. Ein Schatten, der auf ihn zuflog. Irgendwie riß er die Arme über den Kopf. Der Knüppel, oder was immer es war, traf seine Ellen, er blinzelte zwischen ihnen hindurch, Gefahr, sein Körper erwachte zum Leben, grimmige Spannung drängte Schmerz und Angst zurück. Ohne nachzudenken trat er nach den Beinen des Gegners und fegte ihn von den Füßen, rollte sich instinktiv aus der Bahn. Heißes Blut strömte träge über seinen Hals, sein rechtes Auge begann von außen her zuzuschwillen. Der Magier kam dumpf knapp neben ihm auf die Knie, Lares griff sofort nach ihm, bekam den Stoff an den Schultern zu fassen und zerrte daran, um ihn völlig aus dem Gleichgewicht zu bringen. Die Kapuze glitt widerstandslos von dem kahlen, tiefrot gefärbten Kopf. Lares erstarrte. Seine Gedanken waren lahm vom Kampf, aber trotzdem ... Roter Kahlschädel. Eine Strafe, die nur einem Magier auferlegt worden war, vom Kaiser persönlich. Der Lehrer für Magierecht hatte diesen Fall lange durchgenommen, als Beispiel für verblendete Rachsucht, für die schreckliche Macht der Magie, wenn sie in den falschen Händen war. Lares blinzelte, starrte in die graugrünen Augen des Mannes, die ihn fixierten wie ein Habicht ein entdecktes Kaninchen. Er spürte nichts als blanken Unglauben. Das konnte nicht sein ... "Galotta." Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, als der Name über seine Lippen kam, seine Gedanken an die Luft drängten. Die roten Lider seines Gegenübers zuckten, er nutzte Lares' Fassungslosigkeit und somit Bewegungsunfähigkeit. Seine Hände zuckten hoch, beide je ein Ende eines kurzes, geraden Stabes umfassend, er warf ihn rücklings um. Der Stab setzte sich an seine Kehle, und Galotta stützte sich mit seinem ganzen Gewicht darauf, kaum dass Lares am Boden lag. Sein Gesicht war unbewegt, nur die von zahlreichen fächerförmigen Falten umgebenen Augen leicht verengt, in kaltem Zorn. Lares würgte, schnappte nach Luft. Der brutale Angriff verlieh ihm wieder die Fähigkeit, sich zu bewegen, er kämpfte seine Hände unter Galottas Knien hervor, schob sie unter den Stab an seinem Hals und versuchte, ihn hochzudrücken. Galotta hielt dagegen, in seinem Gesicht die grimmige Entschlossenheit, zu töten. Es war ein stummes Kräftemessen, finster, verzweifelt. Lares wusste nicht, wie lange es angedauert hatte. Alles, woran er denken konnte, war, die Bedrohung abzuwenden, am Leben zu bleiben, sein Blick in dem Galottas gefangen. Es schien fast wie ein Kampf des Willens, mehr das als ein Kampf der puren Muskelkraft ... aber dennoch schien es irgendwann, als gewänne er die Oberhand. Millimeter um Millimeter konnte er den würgenden Stab anheben. Im Gesicht des über ihm knienden Mannes zuckte es erneut, und urplötzlich ließ er ein Ende los. Der Stab schnappte zur Seite, Lares atmete keuchend ein, versuchte sich wegzurollen. Galottas rechte Hand landete schwer auf seiner Brust, hielt ihn am Boden. Lares riß ein Knie hoch und traf ihn auf Höhe der Rippen. Ein kurzes Schnauben war die einzigste Reaktion, dann bewegten sich die Lippen des Magiers, flüsterten fremde Laute. Lares' Herz hörte auf zu schlagen. Seine Augen weiteten sich, als eine formlose, schwarze Leere direkt in seine Brust griff und sich nebelfeuchte Finger um sein Herz legten, es anhielten, als bedeutete es nichts. Namenloses Grauen fegte durch seinen Geist, lähmte ihn, ließ seine Hände, die schon auf dem Weg gewesen waren, die Hand auf seiner Brust fortzustoßen, verhalten. Ein Zittern ergriff ihn, ein Schauer vor der Kälte, die ihn plötzlich von innen heraus erfüllte. Schatten schienen um ihn herum zu wachsen, krochen an den Wänden, am Himmel und am toten Lächeln in Galottas Gesicht hinauf. Er versuchte, etwas zu sagen, egal was, aber nur ein gedämpfter Laut kam über seine Lippen. Es war wie ersticken. Weiße Klauen schlugen durch den dünnen Schleier seines Lebens, zerfetzten seine Kräfte, seine Gedanken wie Spinnweben. Die Schatten stürzten auf ihn ein, er spürte vage, wie seine erhobenen Hände zu Boden sanken, sein Körper erschlaffte. Irgendwie hatte er den rätselhaften Eindruck, dass es heller wurde, ein fahles Licht kam aus ungenauer Quelle, leckte an den Grenzen seines Geistes und... Plötzlich war es vorbei. Ein Schrei schnitt durch die graue Luft, der Druck auf seiner Brust verschwand, und mit einem Satz nahm sein Herz die Arbeit wieder auf, die Wucht des ersten Schlages nach langer Pause ließ ihn unkontrolliert zucken. Die Welt fiel zurück in Form und Farbe, er riss die Augen weit auf, atmete. Galotta war seitlich von ihm herabgeglitten, mit einer Hand stützte er sich mühsam auf, während er mit der anderen versuchte den Dolch zu erreichen, der aus seiner Schulter ragte. Lares starrte die Wurfwaffe benommen an, versuchte sich aufzusetzen. Sein Herz pochte so heftig, dass der Klang von den Wänden wiederzuhallen schein. Galotta erreichte die Klinge und riss sie so rigoros aus seinem Körper, dass Blut über den Boden spritzte, sein Kopf flog herum, in seinem Gesicht blanke Wut, die Zähne gebleckt. Eine eiskalte Ahnung ergriff von Lares Besitz, er folgte Galottas Blick. Zylya stand vor der weit geöffneten Tür zum Zimmer der Baroness, blass, mit geröteten Wangen, die Augen glänzten vor Aufregung und Furcht. Jetzt, wo Galotta sie anstarrte, trat sie unwillkürlich einen Schritt zurück, schluckte sichtbar. Lares dämmerte, dass sie den Dolch geworfen haben musste. Galotta würde sie töten. Ihm war sicher klar, dass das nicht irgendein Dienstmädchen war, noch dazu, weil sie just in diesem Moment aufgetaucht war, und das auch noch aus diesem speziellen Raum. Jetzt warf er den Dolch achtlos davon, ballte die Rechte zur Faust, seine Lippen öffneten sich ... Lares überlegte nicht lange. Er sprang auf und warf sich mit seinem ganzen Körper gegen ihn, umklammerte ihn mit beiden Armen. "Verschwinde !" schrie er Zylya zu. "Lauf !" In Zylyas Gesicht stand eine Mischung aus Protest, Unglauben und Angst. "Aber ...!" Ein Wutschrei entfuhr Galotta, als er versuchte, Lares abzuschütteln. Es klang fast wie ein Fauchen. Lares rang ihn irgendwie nieder. "Geh ! Zylya, bei allen Zwölfen, bitte geh !" Seine Stimme hallte in den Marmorgängen, grausam verzerrt von Panik, es war nahezu ein Flehen. Hörte er sich wirklich so an ? Ihre Miene war ein Bild der Erschütterung, als er einen Blick auf ihr Gesicht erhaschte, blutleer, irgendwie hilflos. Sie sah so ... verwundbar aus. Es zerriss ihm das Herz. Galotta kämpfte sich einen Arm frei, schlug unkontrolliert um sich. Lares spürte, wie er seinem Zugriff entglitt. "Schnell !!!" gellte er. Wie von einem Schlag getroffen zuckte sie zusammen, wirbelte herum und rannte davon. Endlich. Mit einem kräftigen Schlag stieß Galotta ihn von sich. Lares' Herz machte einen Satz, kam für Augenblicke aus dem Takt. Schwarze Nebel wallten vor seinen Augen auf. Noch nicht ... sie ist noch nicht in Sicherheit ... noch nicht ... Er federte zurück und hängte sich mit seinem ganzen Gewicht an die schwarze Kutte, brachte den Aufstehenden aus dem Gleichgewicht. Eine kurze Ablenkung. Aber sie reichte aus: Zylya verschwand um eine Ecke. Kein Zauber, den Galotta sprach, konnte sie treffen, ohne dass er sie sah. Die Welt verschwamm, sein Puls pochte in seinen Ohren, er spürte, wie sein Griff sich lockerte, der glatte Stoff ihm entglitt. Es war, als hätte er seinem Körper mehr abgekauft, als er eigentlich zu leisten bereit gewesen war. " Wachen !!!" Galottas Stimme schnitt durch die Hallen. "Hierher ! Ergreift sie ! Dort ! Dort entlang !" Schwere Schritte stampften die Treppe herauf, an ihnen vorbei. Lares versuchte verzweifelt, einen klaren Kopf zu behalten, die Kontrolle über seinen Körper zurückzugewinnen. Er rappelte sich mühsam auf die Ellenbogen hoch, versuchte wieder auf die Beine zu kommen. Galottas Blick erfasste ihn, voll kaltem Hass und geringschätziger Verachtung, wie man etwa eine lästige Fliege betrachtet. Lares erstarrte. Plötzlich, zum ersten Mal seit Stunden, wie es ihm schien, hatte er Angst. Lähmende, schreckliche Angst vor diesem Mann und seinen Kräften. Das eben ... er hatte einfach seinen Herzschlag angehalten ! Und er zweifelte nicht daran, dass er das wieder tun konnte. Und dass er es nicht noch einmal überleben würde. " Genug", sagte Galotta scharf, er spie die Worte geradezu aus. "Glaubst du, du kannst mir irgend etwas entgegensetzen, ein kleines, unbedeutendes Licht, so wie du es bist ?" Die Worte kamen langsam, sorgfältig betont, jedes einzelne mit der Wirkung eines Nadelstiches. "Glaubst du, du und dieses blonde Flittchen könnten meine Pläne durchkreuzen ?! Weswegen seid ihr hier, heh ? Weshalb ?!!" Er trat zu. Lares unterdrückte ein Stöhnen, als sich die harte Stiefelspitze zwischen seine Rippen bohrte, versuchte, rückwärts zu robben. Ein zweiter Tritt traf ihn in die Nierengegend, er krümmte sich unter Schmerzen. " Glaub bloß nicht, dass du hier lebend wieder rauskommst !" Galottas Stimme hob sich vor Wut. "Glaub bloß nicht, dass ich irgendeine Rechnung offen lasse ! Hältst du dich für einen Helden ? Glaubst du, deine Götter können dir jetzt helfen ?" Ein weiterer Tritt. Lares' entfuhr ein erstickter Laut. "Einen qualvollen Tod wirst du sterben, das verspreche ich dir, aber vorher wirst du reden ! Jede Einzelheit wirst du mir erzählen ! Ich habe bisher jeden Geist gebrochen, und deiner wird für mich nicht einmal eine Herausforderung darstellen, nicht für mich, der selbst einen Oger dazu bringen kann, die Analysis anzuwenden, der vier Elfen alles tun lassen kann, was immer und wann immer es ihm beliebt ... !" Lares musste das alles nicht hören, um zu wissen, dass er verloren war. Gaius Cordovan Eslam Galotta war eine Koryphäe auf dem Gebiet der Beherrschungsmagie, und zwar eine in der schwärzesten Ausrichtung. Er hatte nie irgendeine Form ethischen Skrupels bewiesen, und Lares rechnete nicht damit, dass er bei ihm eine Ausnahme machen würde. Wenn er hier nicht herauskam, würde er sterben. Und vorher alles sagen, was er wusste. Daran bestand nicht die geringste Ungewissheit. Laufen war zwecklos, er hatte auch seine Zweifel, dass er es überhaupt schaffen würde, aufzustehen. Er konnte einfach nicht mehr. Aber vielleicht hatte er noch eine Chance ... vielleicht, wenn Galotta sich weiter so in Rage redete, wenn er ihn nur für einen Augenblick aus den Augen ließ, wenn er für einen Moment nicht daran dachte, das Lares Magier sein könnte, oder wenn er sein Spezialgebiet nicht kannte, wenn ... Zu viele wenn's. Lares dachte an den vereinbarten Treffpunkt, ein winziges Wäldchen inmitten der Hecken, die die Felder vor Hohenfels-Siedlung voneinander abgrenzten und vor Wind schützten. Dort hatten er und Zylya sich treffen wollen, wenn etwas schief ging. Zylya ... hoffentlich entkommt sie ... hoffentlich ... Er überschlug die Entfernung. Fast drei Kilometer von hier aus gesehen, wenn nicht mehr ... so weit hatte er sich bisher nie teleportieren müssen. Aber um keinen Preis wollte er in Sichtweite der Burg oder gar darin bleiben ... Galotta würde ihn finden ... Es war seine einzige Chance. Ein weit ausgeholter Tritt traf ihn, warf ihn auf den Rücken. Keuchend schnappte er nach Luft, stöhnte, hob lahm die Arme über den Kopf. Er durfte keine Absicht zur Gegenwehr vermitteln. Nichts. Einfach aufgeben. Es fiel ihm nicht schwer. Sein Rumpf schmerzte höllisch unter der Wucht der Angriffe, die er abgekommen hatte, aber er zog es vor, grün und blau geschlagen zu werden, als eine einzige weitere magische Attacke abzubekommen. Er hatte das dumpfe Gefühl, dass nicht mehr viel fehlte, bis das Leben in ihm genug hatte und sich geschlagen gab. Tatsächlich hörten die Tritte auf, als er sich nur noch passiv zusammenkrümmte. Ein abschätziger Laut, fast ein Ausspucken folgte, Stoff raschelte. Lares wagte es kaum, ein Auge zu öffnen, als könnte das geringste Zeichen von Lebendigkeit eine weitere Serie von Schlägen hervorrufen. Galotta sah auf ihn herab, rümpfte die Nase, das Gesicht vor Zorn verkniffen, dann wandte er sich brüsk ab, sein Blick ging den Gang hinunter, den Wachen nach. Ein Bild mühsamer Beherrschung, vielleicht sogar reuevoller Beherrschung. Reue, die Kontrolle über sich verloren zu haben. Das war die Chance. Lares schloß die Augen, tauchte ab, sein Geist verwob blitzschnell Astralfäden. Rief sich das Bild des Wäldchens ins Gedächtnis, die astrale Signatur dieses Ortes. Nickte. Der Limbus saugte ihn ein. Kapitel 3: Zaubergesten ----------------------- Zaubergesten Lares. Rondra 27 Hal. Lares war mehrere Dutzend Meter entfernt von seinem eigentlichen Ziel angekommen, mitten in der prallen Sonne, inmitten eines reifen Weizenfeldes. Hatte sich kurz stumpf umgesehen und war dann einfach umgekippt, hatte Minuten auf der würzig duftenden Erde gelegen und versucht zu begreifen, dass er entkommen war. Sein Kopf war schwer wie Blei, nur zu groben Gedanken fähig. Weiter. Hier kann man dich sehen. Versteck dich. Warte auf Zylya. Sie kommt bestimmt. Bestimmt. Als er den Eindruck hatte, dass sein Herz wieder ruhig und gleichmäßig schlug, war er schwerfällig losgekrochen, auf das Wäldchen zu, hatte sich ins schützende Unterholz gezogen und war dort liegengeblieben. Starrte ins bewegte Blätterwerk über ihm, bis er einschlief. Es war ein seichter, unruhiger Schlaf, in dem die Bilder der Ereignisse herumwirbelten und der ihm kaum Erholung schenkte, aber als der die Augen das nächste Mal öffnete, war es beinahe dunkel. Erschrocken fuhr er hoch, sah sich wild um. In einiger Entfernung glommen die Lichter von Hohenfels Siedlung, die Burg war ebenfalls hell erleuchtet. Einige einzelne Lampen wanderten gemächlich über die Felder. Suchtruppen ? Ihm wurde klar, was für ein Glück er gehabt haben musste, wenn ihm tatsächlich Leute nachgeschickt worden waren. Fast unnatürliches Glück wäre das ... Vielleicht waren es ja nur Bauern oder Ballgäste auf dem Weg nach Hause. Er sank wieder ein bisschen in sich zusammen, duckte sich tiefer in die Schatten. Es war recht kühl geworden. Fröstelnd zog er den bordeauxroten Samtrock enger um sich zusammen. Die weißen Manschetten waren voller Blutflecken. Erst als er dies sah, bemerkte er, wie sehr seine rechte Gesichtshälfte schmerzte. Vorsichtig tastete er hoch - und zog die Finger fast sofort wieder zurück, als er die klaffende Wunde über seinem rechten Ohr berührte und sich greller Schmerz in seinen Kopf fraß. Die Narbe. Sie muss wieder aufgebrochen sein. Er realisierte, dass es nicht nur an den Nachwirkungen des Schlafs lag, dass er sein rechtes Auge nicht ganz öffnen konnte. Tsa. Ich muss aussehen wie eine Chimäre. Die Erinnerungen schlichen sich in sein Bewusstsein. Er schloss die Augen, versuchte, sie zu ordnen, sie nicht von sich Besitz ergreifen zu lassen. Nach der Dunkelheit zu schließen, muss alles etwa sechs Stunden her sein ... sechs Stunden ... und keiner hat mich gefunden ? So weit weg war ich nun auch wieder nicht vom Schloss ... was hat sie aufgehalten ? Oder hat Galotta niemanden losgeschickt ? Wieso ? Er musste an Zylya denken. Sie war nicht hier ... was konnte das bedeuten ? Versteckte sie sich irgendwo ? Hatte man sie geschnappt ? Oh mein Gott, wenn Galotta sie in die Finger bekommt ... er wird es an ihr auslassen, dass ich entkommen bin ... er wird ... Er hielt sich beinahe gewaltsam vom Weiterdenken ab, kniff die Lider zusammen und presste die Lippen aufeinander. Ganz ruhig, Lares. Warte einfach noch etwas ab. Es hat nichts zu sagen, dass sie noch nicht hier ist. Das muss nichts heißen. Sie ist doch so vorsichtig. Oder sie ist in eine andere Richtung geflohen. Und hat nicht daran gedacht, hierher zu kommen. Wenn sie ihn nun vergessen hatte ? Wenn sie dachte, er sei tot ? Seine Brust schnürte sich zusammen. Wenn sie fort war ... was dann ? Er stand auf, trat ein wenig zwischen den Büschen hervor, suchte den Horizont mit den Augen ab. Dann wandte er sich um und musterte die Bäume. Nein, das war der richtige Wald ... oder? Ein Kloß bildete sich in seiner Kehle, als er den Blick wieder auf die leeren, sich im Wind wiegenden Felder lenkte, graublau gefärbt von der eintretenden Dunkelheit. Er fühlte sich, als hätte man etwas aus ihm herausgerissen. Habe ich sie nur wiedergefunden, um sie wieder zu verlieren ? Es tat weh. Es tat mehr weh, als er gedacht hätte. Seine Hand schloss sich fest, beinahe brutal um einen Ast, dann wandte er sich abrupt um und erschütterte den dazugehörigen jungen Baum mit einem Tritt. "Verdammt !!!" Es blieb ihm nichts, als zu warten. Unruhig saß er zwischen den Zweigen, den Blick auf die Felder gerichtet. An Schlaf war nicht zu denken, selbst, als Mitternacht lange vorbei war. Er beobachtete die tanzenden Lichter der Handlaternen in der Dunkelheit, mal näher kommend, mal ferner, er glaubte einmal, ein Bellen zu hören. Man sucht doch nach uns. Oder nach mir ? Die Gedankenspirale aus Angst, Ungewissheit und Fantasie, in der er sich befand, drehte sich immer schneller, quälte ihn. Er verband seine Wunde nicht, um noch etwas anderes zu spüren als das. Zählte die Blutstropfen, die seinen Hals hinunterliefen. Irgendwann ... ein Geräusch. Er hob den Kopf ruckartig in die Richtung, in der er es zu orten glaubte. Keine Laterne. Ein Tier ? Ein Dieb, der im Schutze der Nacht im Dorf gewesen war ? Oder ... ? Langsam stützte er sich hoch, suchte mit den Augen die nur von Mond- und Sternenlicht erhellte Umgebung ab. Schatten. Und ... Schritte ? Plötzlich hatte er Angst, tastete in sich hinein, berührte die Astralquelle. Die Fäden glommen sachte auf, bereit zur Benutzung. Es waren nicht mehr besonders viele. Er drückte den Rücken an den Baum hinter ihm, sehnte sich nach seinem Stab. Eine graue Silhouette tauchte am Fuße der Hecken auf, weißfleckig. Er schob mit den Fingerspitzen einige Blätter zur Seite, beobachtete sie. Sie bewegte sich rasch, etwas ungelenk, wie von Erschöpfung oder falschem Schuhwerk. Hastig. Sein Herz schlug schneller, wilde Hoffnung breitete sich in ihm aus. Konnte eine Frau sein ... das konnte ein Dienstmädchenkleid sein ... Die Person war jetzt ganz nahe an das Wäldchen herangekommen, wurde langsamer, blieb stehen. Wartete, schien bereit, im nächsten Moment einfach weiterzulaufen. Starrte ins Dunkel, ohne ihn zu entdecken. Sie war fast völlig in eine mattfarbene Decke gewickelt, die das Haar und den größten Teil des Körpers verbarg. Ein blasser Arm schob sich aus den schweren Stofffalten, strich über den Schatten, der das Gesicht bedeckte. Eine fahrige Bewegung, unsicher. Dann, eine leise, brüchige Stimme: "Lares ?" Sie war es. Ohne einen weiteren Gedanken trat er aus dem Schutz des Wäldchens, legte die paar Schritte zu ihr fast laufend zurück, warf beide Arme um sie und drückte sie mit aller Kraft an sich. Ein Schluchzer. Von ihm ? Von ihr ? Dann klammerte Zylya sich an ihn, und seine letzten Zweifel verflogen, lösten sich auf in einer Woge aus Erleichterung und Glück. Er wollte irgendetwas sagen, aber so viel, das es zu sagen gab, stürzte auf ihn ein, dass er nichts über die Lippen brachte. So hielt er sie nur, atmete ihren Geruch ein und dankte im Stillen ununterbrochen den Zwölfen, dass ihr nichts passiert war. Irgendwann lockerte sie ihre Umarmung, schob ihn ein wenig von sich, um ihn anzusehen. Scheinbar hatte sie etwas sagen wollen, aber nun stockte sie mit geweiteten Augen und flüsterte: "Phex ! Du blutest !" Sie hob die Finger an sein Gesicht, und er zuckte unter plötzlichem Schmerz zusammen, als sie den Wundrand federleicht betastete. Gleichzeitig war ihre Berührung süß ... so süß, dass er sie noch einmal an sich zog. "Wie gut, dass du da ist", wisperte er. "Ich fürchtete ... ich dachte ..." " Niemand kriegt mich, wenn ich das nicht will", sagte sie kühl und hob spürbar das Kinn. Dann lächelte sie rasch und zupfte an seinem Ärmel. "Komm. Weg hier." Natürlich. Sie konnten hier nicht bleiben. Er nickte, löste sich von ihr. Einen Moment hatte er den Eindruck, ein befreites, beinahe zärtliches Lächeln auf ihrem Gesicht zu entdecken, als sie ihn betrachtete, aber der Augenblick war so schnell vorbei, dass es auch nur ein Schatten gewesen sein konnte. Sein Herz machte einen seltsamen Sprung. Einen wirklich seltsamen. Für einen Augenblick runzelte er die Stirn - und unterließ es mit einem Schmerzenslaut wieder. " Warum hast du keinen Balsam auf dich gesprochen, du Idiot ?!" sagte sie prompt und klang schon fast wieder normal. "Was lässt du dich auch zusammenschlagen !" " Als ob ich es mir ausgesucht hätte !" grollte er. "Der Kerl hat ..." " Sch sch ! Erklär mir das später ! Lass uns diese Klamotten wechseln und unser Zeug holen. Ich hab' das Artefakt." " Du hast es ?" Das Artefakt. Ja, richtig. " Hörst du mir nicht zu oder was ? Ja, ich hab' es. Jetzt beweg dich !" Sanft, aber bestimmt schob sie ihn Richtung Feld. Er ließ es zu, war zu verwirrt, um selbst irgendeine Entscheidung zu treffen. Es war ein schweigender Marsch, geduckt am Rande der Hecken durch die Wassergräben, die ob des heißen Rondra glücklicherweise beinahe leer waren. Trockene Blätter rieselten ihnen in Haar und Kragen, Zweige kratzten über ihre Wangen. Zylya, die vorging, legte ein recht harsches Tempo vor, obwohl sie oft stolperte und sich mehrere Male irgendwo festhalten musste, um nicht zu fallen. Er überlegte besorgt, ob sie nicht doch verletzt war, wollte sie fragen, aber seine Ausdauer ließ so sehr zu wünschen übrig, dass er fast all seine Kraft dafür brauchte, ihr überhaupt folgen zu können. Seine Gedanken waren lahm, bewegten sich nur äußerst träge, und irgendwann begann seine Sicht wieder zu verschwimmen, als würde er durch einen schwarzen Schleier blicken. Was war eigentlich mit ihm los ? Er wurde langsamer, seine Knie waren seltsam weich. Einige Minuten später musste er stehen bleiben, klammerte sich an den überhängenden Ästen der Hecke fest, schloß die Augen und atmete tief durch. Er schwitzte, obwohl ihm eher kalt war. Nervös blickte er zurück. Hohenfels war inzwischen nur noch ein dunkler Fleck vor dem glitzernden Himmel, die Lichter der Siedlung und auf den Feldern kaum noch zu erkennen. Gut. Dann konnte er sich einen Moment ausruhen. Seine Knie gaben wie auf Kommando nach, er rutschte ab und landete in der Böschung. Nie war ihm der Boden so bequem vorgekommen. " Lares ?!" rief Zylya erschrocken. Einige Schritte, dann war sie bei ihm, zerrte an seinen Schultern, bis er den Kopf drehte und sie ansah. Ihr Gesicht war fahl, alarmiert, die Augen weit offen. " Geht schon ...", murmelte er, versuchte, seine Kräfte zu sammeln. "Muß nur einen Augenblick ... ausruhen ..." " Was ist denn los ? Tut dir was weh ?" " Nein ..." Das stimmte sogar. Er spürte die Wunde kaum. Es war eher einfach ... Schwäche. Als hätte jemand seinen inneren Mechanismus aus dem Takt gebracht. Einen Moment schwieg sie, dann begann sie plötzlich, ihn systematisch abzutasten, rasch, rigoros drehte sie seine Gelenke, ihre Hände strichen forschend über Brust und Beine. "Hei", sagte er mit schwacher Gegenwehr. "Ich sagte doch, ich bin nicht verletzt." " Du sagtest, dir tut nichts weh", blaffte sie. "Das heißt gar nichts !" Sie zog die Hände zurück in ihren Schoß, zu Fäusten geballt, die Lippen fest zusammengepresst. Einige Augenblicke schwieg sie. Als sie wieder sprach, hatte sich ihre Stimme verändert, war spröder, leiser. "Was ... wer ... was hat dieser Kerl ... ich meine ..." Sie machte eine heftige, allumfassende Handbewegung und wendete sich dann mit verkniffenem Gesicht ab, schniefte leise. Sie weinte doch nicht etwa ? Nein. Er hatte sie nie weinen sehen, und er war sicher, dass sie den Teufel tun würde, als jetzt damit anzufangen. Ein flüchtiges Lächeln glitt über sein Gesicht. Aber wie sollte er es ihr erklären ? Er hatte ja nicht einmal selbst alles begriffen. Er suchte nach Worten. "Hör zu ... dieser Mann ..." Hörte sie ihm zu ? "Sagt dir der Name Galotta irgend etwas ?" Ihr Gesicht blieb wie aus Stein gemeißelt. Er versuchte, sich aufzusetzen, verfluchte seine Schwäche, verdammt, ein paar klare Gedanken würde er ja wohl noch hinbekommen ! "Nein ...? Oh ... hm ... also ... er ist ein Magier ..." Das hat sie sich sicher selbst schon gedacht. Sie erkennt Zaubergesten inzwischen meistens, wenn sie welche sieht. "Und..." Schwachsinn. Das kann man nicht in zwei drei Sätze fassen. Er seufzte. "Laß mich es dir später erklären, ich ..." " Kannst du aufstehen ?!" Ihre Stimme war hart und laut, wie ein Schlag ins Gesicht. Er zuckte zusammen, starrte sie Momente lang an, sie hatte noch immer den Blick irgendwo ins Leere gerichtet. Hob dann unsicher die Schultern. "Ich versuch's ..." Sie stand sofort auf, klopfte sich harsch den Schmutz von den Kleidern. Er blickte zu ihr auf, hatte das Gefühl, irgend etwas falsch gemacht zu haben und wusste nicht was. " Komm schon !" Er nickte, stand hastig auf. Sein Herz schlug protestierend schneller, ihm wurde schwindelig und schlecht. Sie fasste nach seinem Ellenbogen, hielt ihn im Gleichgewicht. Er fühlte sich wie ein Versager, machte sich los. Kurz bohrte sich ihr Blick in seinen, dann wandte sie sich um und ging weiter. Er sah ihr kurz nach, war irgendwie sauer, ob auf sie oder auf sich selbst, wusste er nicht. Folgte ihr, erst mit einigen vorsichtigen Schritten, aber als sein Herz wieder gleichmäßiger zu schlagen begann, traute er sich, kräftiger auszuschreiten. Sein Herz ... er legte eine Hand auf die linke Brusthälfte. Es pochte fühlbar in seiner Handfläche, sogar durch den Stoff. Vielleicht stimmte tatsächlich etwas mit seinem Herzen nicht. Immerhin hatte es vorhin für ... ja, für wie lange eigentlich ? ... aufgehört zu schlagen. Herzschlag ruhe, Atem stocke. Das war es ! Das musste es sein ! Der einzige Zauber, von dem er gehört hatte, der diesen Effekt haben könnte. Aber ... Das ist ein Spruch mit borbaradianischer Komponente. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Galotta ... Borbaradianer ... das merkwürdige, anscheinend wichtige Artefakt ... die Heere, die unter der Dämonenkrone marschierten ... was passiert hier in Tobrien ?! Etwa eine Stunde später erreichten sie das nächste Dorf, eine kleine Siedlung am Rande eines Handelsweges, gebaut um den einzigen Brunnen in der Gegend, der immer Wasser führte. Sein Gluckern war in der Stille der Nacht deutlich zu hören. Lares verspürte Durst, aber Zylya schüttelte den Kopf, als er es ihr mit einer Geste signalisierte, formte einige Worte mit den Lippen, die er nicht deuten konnte. Etwas verdrießlich folgte er ihr weiter. Seine Laune war ohnehin nicht mehr die Beste, seit er angefangen hatte, nachzudenken. Zu viel, was schlüssig erschien, war alles andere als ermutigend. Zylya orientierte sich mehrere Male in den Gassen, bevor sie ihn recht zielstrebig zu einem Kellereingang zog. Nach einem wachsamen Blick in alle Richtungen eilte sie die Stufen hinab und stieß die mürbe aussehende Tür auf. Sie sah aus, als würde sie knarren, aber sie tat es nicht. Der Raum dahinter war dunkel, muffig und ziemlich feucht. Die grauen Wände hatten große Flecken, die hier gelagerten Kisten waren mit verfärbten Öltüchern bedeckt, auf denen dick Staub lag. Es war zu vermuten, dass dieser Keller sich einer großen Spinnenpopulation erfreute. Er unterdrückte ein Seufzen. Aber wie eine kleine Oase lagen in einer Ecke des Raumes Strohmatratzen, einige verschnürte Bündel, eine Laterne, ihre Rucksäcke und noch besser: Sein Stab. Während Zylya die Tür schloß, ging er hinüber und schloß die Finger um das unbehandelte Holz. Ein willkommenheißendes Kribbeln wanderte über seine Haut, er schloß die Augen, erleichtert, und spürte, wie müde er war. Zylya verriegelte die Tür. Auch der Riegel quietschte nicht, obwohl er mehr als rostig war. Er erinnerte sich vage daran, dass sie davon gesprochen hatte, dass die Mondschatten ihnen eine Nacht an einem sicheren Ort versprochen hatten. Er sah sich erneut um. Komfortabel war es nicht, aber wenn er sicher war, wenn er einige Stunden ruhig und sorglos schlafen konnte, war es mehr als genug. Er setzte sich auf die Matratze, die näher an der Wand lag, lehnte sich an die kalte Mauer und streckte die Beine aus. Einige Augenblicke war es einfach nur angenehm. Dann, allmählich, als würde sein Körper aus einer Art Stagmatie erwachen, begann er, seine Schmerzen endlich zu spüren, wenn auch dumpf und nahezu unwirklich. Zylya starrte noch kurz durch die Fenster, dann kam sie herüber, setzte sich ihm gegenüber auf die zweite Matratzen und begann, die Bündel aufzuknoten. Er beobachtete, wie sie Brot und Käse, Möhren und eine Milchkanne zutage förderte, ohne viel Federlesens etwas von dem Laib abriß und zu essen begann, schnell und gierig. Er sah ihr zu, lächelte ein wenig. Zweifellos lebendig, unversehrt. Es war gut, das zu sehen. Galotta hatte ihr nichts tun können. Zwischen einem Schluck Milch und einem Bissen Käse schaute sie kurz auf, kauend, misstrauisch dreinblickend. "Iß etwas", sagte sie. Er schüttelte den Kopf. " Du musst etwas essen." Sie musterte ihn, schluckte, griff nach dem Brot. "Wenn du noch dünner wirst, brauchst du keinen Visibili mehr." Er lächelte, wiederholte seine Geste aber. "Ich habe keinen Hunger." Das stimmte nicht ganz, aber er war so erschöpft, dass Hunger etwas weiter hinten auf der Liste seiner Bedürfnisse stand. Hinter Schlafen. Und hinter einfach sitzen bleiben und ihr zusehen. " Du und keinen Hunger? Erzähl mir doch nichts." Sie sah allmählich etwas beunruhigt aus, trank ihre Tasse in einem Zug leer, musterte ihn weiter. Lange. Er hatte nicht die Kraft und nicht den Willen, ihrem grauen Blick auszuweichen. " Wie geht es dir ?" fragte sie irgendwann, recht forsch, aber ihre Sorge war deutlich herauszuhören, obwohl ihr Gesicht glatt blieb. " Nicht so gut", musste er zugeben. "Der Zauber, mit dem er mich belegt hat ... ich ..." Er stockte, musste nach Worten suchen. "Ich weiß nicht, wie lange ... wie nah ich ... wenn du den Dolch nicht geworfen hättest ..." Er strich sich über die vor Müdigkeit brennenden Augen. "Ich weiß nicht, ob ich dem hätte entkommen können." Einige Momente Schweigen. "Es sah nicht so aus", flüsterte sie mit bebender Stimme. "Es sah aus, als ob ..." Sie stockte, strich sich plötzlich mit dem Ärmel über das Gesicht und atmete hörbar durch. Er ertappte sich dabei, dass er sie beobachtete, gespannt beobachtete. Etwas in ihm wurde weich und durchlässig, er spürte, wie er zu lächeln begann. "Ist schon gut. Wir sitzen ja beide hier, oder ?" Irgendwie erschien ihm das Vergangene plötzlich weniger schlimm. "Morgen gehen wir los nach Warunk, geben das Artefakt ab und dann spannen wir aus." Sie betrachtete ihn mit sichtbarer Verblüffung, dann lächelte sie schief. "Du bist ja ganz schön zuversichtlich." " Na klar. Es gibt nichts, was wir bisher noch nicht geschafft hätten." Grinste. " Das stimmt allerdings", sagte Zylya mit einem gewichtigen Nicken, riß Brot ab und hielt es ihm hin. "Und passend zu deinem neuen Lebenswillen wirst du jetzt was essen !" " Oh, denkst du, du entscheidest das, ja ?" " Ja, ich entscheide das. Mund auf !" Er ließ sich überzeugen, lachte und nahm das Brot. Sie stand auf, strich mit einem unwilligen Knurren die bauschigen Röcke glatt und wickelte sich aus der Decke. Die weiße Schürze strahlte im graublauen Nachtlicht, als sie hinüber zur Tür ging und die aus schwerem Stoff genähten Vorhänge schloss. Schlagartig wurde es noch dunkler und scheinbar kühler. Ihm fröstelte es, er nagte an der Brotkruste und zog die Beine an. "Au !" entfuhr es ihm. Seine Rippen taten weh. Er hörte sie seufzen, zurückkommen. "Mach mal Licht !" " Stab zu Fackel", murmelte er, ein Feuerstreifen tanzte über den obersten Teil des Kopfstückes seines Stabes und begann gleichmäßig zu brennen. Warmes Licht erhellte den Raum. Sie blinzelte mit nachtgewohnten Augen in die Flamme, nahm dann die Kerze aus der Laterne, stand auf und hielt den Docht in die Flamme. Er fing Feuer, und mit schützend vorgehaltener Hand setzte sie sich wieder und stellte die Kerze in die Laterne. "Okay." " Fackel zu Stab." Das Licht erlosch zugunsten einer schwächeren, aber auch unauffälligeren Helligkeit. Müde legte er den Stab beiseite und schälte sich mühsam aus dem Samtrock. Zu seinem Erstaunen sah sie ihm einen Augenblick zu und ging ihm dann zur Hand. Ich muß mich benehmen wie ein Greis. Trotzdem tat es weh, sich zu bewegen; er wollte schlafen, einfach nur schlafen. Sie faltete den Rock grob zusammen, legte ihn zur Seite und reichte ihm seinen eigenen Mantel aus einem der Bündel. "Den Rest musst du selber machen. Ich zieh mich um. Wehe..." " ... du kuckst", sprach er den Satz mit ihr zu Ende. "Schon klar. Da gibt's ja eh nichts zu sehen." Sie knuffte ihn unsanft, worauf er stöhnte. "Baby", schnaubte sie, richtete sich auf und ging mit ihren Sachen in die Schatten rechts neben den Kisten, wo das kleine Licht der Laterne nicht hinreichte. Schemenhaft sah er sie beginnen, die Knöpfe an der Rückseite des Kleides zu öffnen, seufzte innerlich und begann, seinen Mantel anzuziehen. Es kostete ihn seine ganze Konzentration, und als der gefütterte Stoff ihn endlich wärmte, war er so erschöpft, dass er sich hinlegte und die Augen schloß. Minuten lag er so da, wäre eingedöst, wenn sie ihn plötzlich nicht an der Schulter berührt hätte. " Sag mal, willst du dich nicht heilen und wenigstens das Blut abwaschen ?" " Ich kann nicht", sagte er schläfrig. Kaum angesprochen, wurde er sich der Wunde an seinem Kopf wieder bewusst, deren Blut sein halbes Gesicht, Haar und Hals verklebte. Er sollte sich wirklich drum kümmern, aber er war zu müde zum Zaubern und zum Verarzten erst recht. Mal ganz abgesehen davon, dass seine Astralkräfte sich dem Ende zuneigten und es hier keinen Spiegel gab, mit dem er die Wunde hätte fachmännisch behandeln können. " Wieso nicht ? Du fängst dir Wundbrand ein, du Schwachkopf. Komm, hoch mit dir !" Sie zog so lange an seinem Ärmel, bis er sich stöhnend wieder aufsetzte. " Ich hab kaum noch Astralenergie", jammerte er. "Laß gut sein, bis morgen ist das doch zugeheilt." " Das glaube ich nicht." Sie stellte die Laterne auf die andere Seite, so dass das Licht auf die Verletzung über seinem Ohr fiel. "Es blutet seit acht Stunden. Kein Wunder, dass du so aus den Latschen kippst. Wir müssen die Wunde versorgen, sonst verblutest du mir hier noch über Nacht." Er glaubte nicht, dass es so schlimm war, aber ihm war beim Aufrichten irgendwie schwummrig geworden, so dass er nicht protestierte, als sie in ihrem Rucksack nach Verbandsmaterial suchte. Er lehnte sich wieder zurück, wartete, versuchte, sich wachzublinzeln. "Zylya ... sag mal ..." " Hm ?" " Wo warst du den ganzen Tag ? Wieso bist du erst so spät gekommen ?" Sie stapelte Zeug neben sich auf die Matratze. "Na ja ... ich war zunächst in einem Schrank auf der Burg. Habe dort gewartet, bis die Luft rein war, und bin in die Ställe, habe mich mit einem Harmlose Gestalt in einen Stalljungen verwandelt und bin mit der nächsten Kutsche raus. Dann habe ich mich im Dorf versteckt, bis es dunkel war." Er dachte einige Momente nach. "Hast du Suchtruppen gesehen ?" " Na ja, in der Burg wohl die Wachen." " Wieso hatte er die Wachen unter Kontrolle ? Ich verstehe das nicht." " Was will Galotta" - die Art und Weise, wie sie den Namen aussprach, ließ durchblicken, dass sie den Namen sehr wohl kannte und auch, was sich dahinter verbarg - "überhaupt auf Hohenfels ? Was wollte er von dir ?" Sie goß Wasser aus ihrem Schlauch in eine Tasse, nahm einen Lappen und krabbelte hinüber zu ihm. Er ahnte schlimmes. " Hmm ... ich habe auch schon darüber nachgedacht ... wir haben doch den Auftrag, das Artefakt zu stehlen, damit es nicht in die Hände der Borbaradianer fällt ... Nun, Charissia ist bekanntermaßen eine. Und Galotta ..." Er seufzte und zuckte zusammen, als sie begann, mit angefeuchteten Tuchzipfel das Blut an seinem Hals abzuwaschen. "Ein Herzschlag ruhe zählt zu den Sprüchen mit borbaradianischer Komponente." Er glaubte zu spüren, dass sie bei der Erwähnung des Zaubers innehielt, und wollte sie ansehen, aber mit einem rüden "Stillhalten!" hielt sie ihn zurück und machte emsig weiter. Das Wasser war kalt, und sie war nicht gerade sanft, so dass er kurz murrte. Sie spritzte ihm strafend einige Tropfen ins Gesicht. "Also, was hast du dir gedacht, großer Denker ?" " Hmm. Na ja, vielleicht wollten sie das Artefakt." " Das wir jetzt haben." " Was Ihnen ganz sicher nicht gefällt, sollte ich recht haben. Aber wenn ich falsch liege, was wollte sie dann dort ? Und wieso sind sie im offiziellen Gefolge Gurdners ?" " Im offiziellen ?" Auch Zylya klang verwundert. " Anell sagte das. Charissia wohl mit falschem Namen, wahrscheinlich also auch Galotta. Weiß der Fürst, wen er da dabei hat ?" " Viele Mächtige haben Dreck am Stecken", kommentierte sie trocken und begann, die Wundumgebung vorsichtig abzutupfen. Er wäre vor Schmerz beinahe in Ohnmacht gefallen, versteifte sich ruckartig und zog den Kopf weg. "Uuh ..." Sie musterte ihn kurz und meinte dann ernst: "Lares, das sieht nicht gut aus. Ich glaube nicht, dass das einfach zuheilt ... Die Narbe ist aufgesprungen, es klafft richtig auseinander ..." Sie wollte weitermachen, aber er lehnte sich fluchtartig zurück, kurz in Erwartung des Schmerzes die Luft durch die Zähne ziehend. Sie ließ die Hand mit dem Lappen in den Schoß fallen, seufzte. "So wird das nichts !" " Das tut weh !" " Das glaube ich. Aber es wird sich entzünden, wenn ich's nicht saubermache. Und dann kommen ein paar Fliegen und legen ihre Eier rein, und schon hast du Maden im Kopf rumkriechen." " Urgh ! Hör auf, mir solche Bilder in den Kopf zu setzen !" " Selber schuld. Memmst hier herum wie ein Kind." Sie griff über seine Beine hinweg nach dem Verbandszeug. Er sah ihr zu, Furcht im Gesicht. " Wie auch immer, Anell sprach gut von Gurdner, ich denke eigentlich nicht, dass er ..." " Du und deine Anell !" Sie warf die grob zusammengefaltete Decke auf seinen Schoß und setzte sich rittlings darauf. Er erschrak so sehr, dass er zurück zuckte - und sich prompt den Hinterkopf an der Wand stieß. "Au !" " Genau deshalb mache ich das: Damit du deinen Kopf nicht wegziehen kannst !" Mit einem selbstgefälligen Lächeln breitete sie die Utensilien zwischen ihnen aus, sah dann auf und lachte, als sie seine weit aufgerissenen Augen sah. "Was ist ? Bin ich nicht die Frau, die du gerne auf dem Schoß haben willst ?" Ordnete sorgfältig die Sachen. Lares öffnete den Mund, um zu antworten, zu protestieren, irgend etwas zu sagen ... Ihre plötzliche Nähe überrumpelte ihn, machte ihn stumm. Er musterte ihre gesenkten Augen, ihr argloses Gesicht. Dachte sie sich wirklich nichts dabei ? " So", sagte sie fast fröhlich. "Weiter geht's." Lehnte sich vor, stützte sich mit einer Hand auf seiner Schulter ab, während sie mit der anderen erneut die Wunde zu reinigen begann. Es tat schrecklich weh, aber sein Impuls, sich zu entgegengesetzten Seite zu entziehen, wurde durch sanften Gegendruck vereitelt. Er grub die Hände in die Matratze, um den Schmerzen Herr zu werden, zuckte bei jeder Berührung zusammen, aber konnte nicht ausweichen. Wurde von ihren Händen und Knien an der Stelle gehalten. "Das ist gemein", murmelte er. " Ich bin halt gemein", lächelte sie. Minuten Stille. Ihre sachliche Berührung. Eine seltsame Aufregung glomm in ihm, erhitzte seine Wangen. War ihm der Blutverlust zu Kopf gestiegen ? " Ich werde das nähen müssen", sagte sie irgendwann in das Schweigen. Es riß ihn aus seinen Gedanken. "Muß das sein ?" " Wenn du es nicht magisch heilen kannst ..." Sie nestelte an einem Ledertäschchen in ihrer beider Schoß, zog eine Nadel heraus, klemmte sie sich zwischen die Zähne und wickelte Zwirn von einer Spule. " Sieht gefährlich aus", brummte er, betrachtete die unheilvoll blitzende Nadel. Betrachtete ihre Lippen. Ein vages Begehren regte sich in ihm ... Oh oh. Er wandte den Blick ab. " Vielleicht sollte ich einen Balsam lernen", meinte sie und ließ es so klingen, als wäre das nur wegen seiner Unfähigkeit nötig, fädelte den Zwirn durch das Nadelöhr, schaute ihn an. Ihr Blick wurde misstrauisch. "Was ist ?" Ja, was ist, zum Teufel ? Die Situation ist einfach zuviel für meine Phantasie. "Nichts, schon in Ordnung." " Hm. Ich bin auch müde. Dauert nicht lang ... hoffe ich. Dreh mal den Kopf so, dass ich da mit der rechten Hand rankomme." Er gehorchte. Vielleicht war es gut, wenn er sie nicht mehr ansehen musste. " So ..." Ihre Linke packte in Erwartung einer Reaktion fest seine Schulter. "Vorsicht ..." Als sie die Nadel durch die Wundränder stach, konnte er einen Schrei nicht unterdrücken, sein Körper streckte sich im verzweifelten Versuch, den Schmerz zu katalysieren. Sie quiekte, als sie mit einem Ruck von der Wand wegrutschten. "Lares ! Halt still !" " Das sagst du so", keuchte er mit zusammengekniffenen Augen. " Halt dich irgendwo fest ! Wir haben leider keinen Beißring für dich." Er ergriff ihre Knie, die sich gegen seine Hüften drückten. Ihre Blicke bohrten sich ineinander, herausfordernd, kampflustig. "Na dann", sagte sie mit tiefer Stimme. "Wollen wir doch mal sehen, wer hier der Stärkere ist." Es hatte wirklich etwas von einem Zweikampf, nur, dass Arzt gegen Patient ging. Als sie den Zwirn nach ihrem Sieg verknotete, lag er rücklings am Boden, sie saß auf seinem Bauch. "So! Erlegt." Sie lächelte schwer atmend, ließ sich zur Seite gleiten und rollte hinüber auf ihre Matratze, die Hände blutig. "Yurks", machte sie, als sie es bemerkte, setzte sich auf und wischte sie mit dem Lappen sauber. " Das ist mein Blut an deinen Händen", stöhnte er vorwurfsvoll. "Ihr Götter ! Aua !" " Wenn du so weiter jammerst, wird's noch mehr sein", sagte sie mit unheilvollem Grinsen, dann lachte sie kurz auf. "Du siehst aus wie ein Pirat." " Tja, sehe schon lange nicht mehr aus wie ein Magier." " Hey, du bist ein Magier, stimmt. Hätte ich fast vergessen." " Haha." " Geh schlafen, Waschlappen. Aber verbind dich vorher." Er griff nach der Bandage und rollte sie seufzend auf. Als er fertig war, schlief sie bereits. Hatte sich auf ihrer Matratze zusammengerollt, atmete ruhig und tief. Er schmunzelte. Griff nach der zerknäulten Decke, die irgendwann von seinem Schoß gerutscht war, faltete sie auseinander und deckte sie zu. Strich ihr das Haar aus dem Gesicht. Ertappte sich dabei, vor sich hin zu lächeln. Was, verdammt ...? Löschte das Licht, legte sich mit schmerzendem Rippen hin, zog seine Decke über die Schultern und betrachtete ihr vertrautes Gesicht. Erforschte sich selbst. Irgendwie fühlte er etwas, dass er vorher nicht gespürt hatte: Eine Wärme, tief in ihm, eine fast qualvolle Zärtlichkeit für sie, eine ... Oh nein. Ihr Götter, tut mir das nicht an. Das konnte doch nicht wahr sein ! Er hatte sich nicht allen Ernstes ... ?! War er nicht gebrannt genug, was Frauen anging ? War er nicht gebrannt genug, was Zylya anging ? Hatte er derzeit nicht genug Probleme am Hals ? " Lares, sei vernünftig", flüsterte er in die kühle Nachtluft. Hatte sofort ihre Stimme im Kopf: "Vernunft war nie deine Stärke". Er legte die Hände über die Augen, wimmerte. Zylya wird mich umbringen, wenn sie das rauskriegt. Kapitel 4: Der Kampf auf dem Hof -------------------------------- Der Kampf auf dem Hof Lares. Tsa 27 Hal. Sein Rücken schmerzte, als hätte sich jemand stundenlang die Zeit genommen, geduldig hineinzutreten. Mit einem Stöhnen fasste Lares sich ins Kreuz und versuchte sich zu strecken. Seine Muskeln, die stundenlanges Bücken gewohnt waren, rebellierten mit grimmigem Ernst. " Was ist, du Weichei ?" grinste Travian und hieb ihm mit seiner Pranke auf die Schulter, Lares wäre beinahe zusammengebrochen. "Fünf Monate Feldarbeit und immer noch keinen Mumm in den Knochen ?" Radul und Hagen lachten. Über den Schultern der Brüder lagen die schweren Tragstöcke mit der Ernte des Tages: Säckeweise Schwarzwurzeln. Sie waren verschwitzt und schmutzig, aber ihre Arme zitterten nicht, und in ihren Gesichtern lag nicht der Schmerz der Erschöpfung. Travian grinste und legte Lares mit einem Arm den letzten Tragstock auf. Er hielt sich nur mühevoll auf den Beinen, aber er grinste zurück. Der Spott der Tagelöhner war gutmütig, und rein körperlich gesehen war er nun mal bei weitem der schwächste in der Gruppe, die heute auf den Feldern gearbeitet hatte. Der Weg zurück zum Hof ging, obwohl sie bereits den ganzen Tag im hartgefrorenen Winterboden Wurzeln gestochen hatten, kameradschaftlich fröhlich vonstatten: Travian erzählte mit dröhnender Stimme von dem neuen Schankmädchen im Dorf und was er am liebsten alles mit ihr machen würde, was Hagen zu einer kleinen, halbernstgemeinten Schimpfkanone über seine Frau, eine Magd am Hof, bewegte, die ebenfalls zur allgemeinen Ermunterung beitrug. Lares blieb recht schweigsam. Er war inzwischen den eher derben Humor der Tobrier gewöhnt und hatte sich auch schon des öfteren den Schäkereien über Frauen angeschlossen, aber ihm war heute nicht danach. Die Kameraden ließen ihn. Sie hatten ihm nicht einmal dumme Fragen über seinen Streit mit Zylya gestellt, wie er es befürchtet hatte. Er war ihnen sehr dankbar. Es waren gute Kameraden. Auch wenn sie viel über seinen Körperbau lachten und ihn einen Gelehrten nannten, nur weil er einmal bewiesen hatte, dass er schreiben konnte, so ließen sie ihn immer die leichteste Arbeit verrichten, die anstand (welche ihm schon schlimm genug zusetzte), stellten sein Schweigen zu manchen Themen nicht in Frage und wollten nicht wissen, warum er die Handschuhe trug. Er starrte auf seine Hände. Ein Magier soll immer zu erkennen sein und die Zugehörigkeit zu seiner Zunft nicht verbergen. Seit Wochen hatte er seinen Stab nicht in der Hand gehabt, seit Monaten das Magiersiegel in der Handfläche seiner Rechten nur beim Waschen gesehen. Was würden seine Lehrer wohl sagen, wenn sie wüssten, dass er Landarbeit verrichtete ? Der Hof kam in Sicht. Das gute Gefühl, die Last bald loszuwerden, etwas zu essen und zu trinken zu bekommen und auf warmes Stroh sinken zu können, wurde fast sofort von seiner Angst, Zylya zu begegnen, getrübt. Eine kalte Faust ballte sich um seinen Magen zusammen. Er wich ihr seit Tagen aus, und er hatte das Gefühl, dass sie dasselbe tat. Kein Wunder. Seine Gedanken schweiften, ohne dass er es wollte, zurück zu dem Moment hinter dem Holzschuppen. Ihre Tränen. Er hatte sie trösten wollen. Er hatte ihr zeigen wollen, dass er für sie da sein wollte. Dass er immer ... dass er ... Er kniff die Augen zusammen, um die Gedanken abzublocken. Sie verfolgten ihn jede Nacht in seinen Träumen, warum ließen sie ihn nicht wenigstens tagsüber in Ruhe ? Du hast doch nicht im Ernst geglaubt, mir so zu helfen ? Ich will deinen Trost nicht und schon gar nicht das, was du scheinbar dafür hältst! Ich brauche überhaupt keine Hilfe, auch nicht von dir, erst recht nicht von dir!! Du bist genauso egoistisch, wie alle anderen, und ich habe auch noch ernsthaft geglaubt, dir vertrauen zu können! Die scharfe Stimme schnitt selbst nur als Erinnerung tief in sein Herz. Sie hasste ihn sicher, am Ende zu Recht ... vielleicht hatte sie nie ... er hatte sich alles nur eingebildet ... aber so schlimm, so schlimm war es doch nun auch nicht, um ihre Reaktion zu rechtfertigen ... oder ? Das kommt davon, wenn man sich in eine Freundin verliebt... gerade in eine solche ... Gewagt, verloren ... alles ... alles... Plötzlich. Es war ein Gefühl wie ein unvermittelter Laut an einem Ort, wo vorher nur Schweigen geherrscht hatte. Wo Schweigen herrschen sollte. Wie ein Herzschlag aus einem Grab. Er erstarrte mitten im Schritt. Ein Zucken in den feinen Astrallinien, die sie umgaben, die ihn durchdrangen und sich um ihm sammelten. Ein unheilvolles Zucken. Als würde sich eine Leiche bewegen. Eine Augen irrten suchend umher, um die Quelle dieses Gefühls auszumachen, er konnte es sich nicht erklären, die Angst krallte sich so tief in ihn, dass sein Kinn zu zittern begann. Er sah zum Hof. Es schnürte ihm die Kehle zu, bevor er auch nur hinsah. Feuerzungen leckten aus den Küchenfenstern, quälend langsam rutschten Eisschollen vom Dach und zerstoben beim Aufprall, dann begann das Strohdach sich zu verfärben, dunkler, dunkler, bis das Feuer sich durchfraß und sich gleich einer Schlangenzunge in die klare Luft wand. Dämonenpräsenz. Die Tragstange glitt von seinen Schultern, die Säcke schlugen hart am Boden auf. Sein erster Impuls war einfach nur Flucht. Aber wie immer waren sein Verstand schneller zur Stelle, als es ihm eigentlich recht war. Die Gegend hier ist von Borbarads Heer nahezu unberührt. Hier gibt es keine Dämonen, die einfach so auftauchen. Sie müssen aus einem bestimmten Grund hier sein. Man muss sie geschickt haben. Wegen uns. Sie sind wegen Zylya und mir hier. Kein Mensch auf dem Hof hat eine magische Waffe. Wie sollen sie sich verteidigen ? Zylya kann keinen Kampfzauber. Sie ist völlig wehrlos. "Was ist los ?" fragte Radulf. Seine Stimme klang leicht beunruhigt. "Scheiße" , flüsterte Lares. "Scheiße !" " Was denn ?" Die Männer folgten seinem Blick. "Oh verdammt, es brennt !" " Es brennt !" " Verdammt, hin !" Die Männer ließen die Wurzeln fallen und rannten los. " Halt !!" schrie Lares. "Nein !" " Komm schon !" rief Travian über die Schulter zurück. "Halt, wartet ... !" Lares spurtete hinterher. "Da sind ..." Ein Zant trat auf den Hof, langsam, seine riesigen Tatzen wirbelten Staub auf, Blut troff von seinen Lefzen und platschte in riesigen Tropfen zu Boden, seine violett gestreiften Flanken glänzten in grausiger Schönheit. Die Männer vergaßen mitten im Lauf, die Beine zu bewegen; Hagen fiel, Radulf, der direkt hinter ihm gewesen war, stolperte über ihn und stürzte der Länge nach. Travian stoppte gerade noch so, das Gesicht aschfahl, und taumelte zurück, sobald er es schaffte, sich wieder zu bewegen. "Verschwindet!" schrie Lares und rannte an ihnen vorbei. "Schnell !" Er stoppte zwischen den Tagelöhnern und dem Dämon, nicht wissend, woher er eigentlich den Mut dazu nahm oder was er tun sollte, staubfeiner Schnee wirbelte um sie herum auf. Der Zant wandte ihm fast träge das erschreckend humanoide Raubkatzengesicht zu, in seinen Augen leuchtete es auf, seine schweren Kiefer bebten im Jagdfieber. Hinter ihm löste sich eine zweite Riesenkatze aus den Schatten, das fast orangefarbene Fell aschebestäubt und blutbespritzt. " Oh Peraine ! Peraine !" schrie Hagen und versuchte wild, aufzustehen, wobei er seinen Bruder wieder umwarf. "Jetzt haut endlich ab !" schrie Lares ihnen halb wütend, halb panisch zu, während er sich die Handschuhe mit den Zähnen von den Fingern riss und einen festen Stand suchte. In seinem Kopf liefen routiniert Konzentrationsmuster ab, Übungen, die er schon so lange machte, um sich auf den Astralfluss einzustellen, dass sie kaum noch Zeit in Anspruch nahmen. Er hatte das Gefühl, es würde Ewigkeiten dauern. Die Angst ließ ihn zittern, er wusste vom Hörensagen, wie verdammt schnell diese vierbeinigen Kampfmaschinen waren, und er wusste, wenn er sie nicht sofort erledigte, hatte er kaum eine Chance. Niemand entkam einem Dämon, der auf ihn angesetzt war. Zylya ! Was war mit ihr ? Wieso waren die beiden Zantim hier ? Hatten sie sie am Ende bereits ... ? "Zylya !" rief er und hoffte verzweifelt, sie möge irgendwie antworten, ihm zeigen, dass sie lebte. "Zylya !" Die Zantim setzten sich in Bewegung. Beinahe gemütlich setzten sie Pranke vor Pranke, setzten sich in Trab, die Kiefer klafften auf, Blut und Speichel rann ihnen am Kinn hinab. Die Tagelöhner begannen zu kreischen, Lares hob mit blutleerem Gesicht die Hände, formte sie vor der Brust zu einer Schale und webte Astralenergie hinein. Die Geräusche erstarben bis auf seine eigene Stimme. Dumpf vibrierte der Boden unter den Tatzen der Zantim, die in weiten Sprüngen auf sie zu setzten, mit einer seltsamen Geschwindigkeit, als würde alles in Zeitlupe ablaufen. In goldenen Schlieren manifestierte sich Astralkraft zwischen seinen Fingern, glühte, brannte, verfärbte sich gleißend blau, dann gelb, rot ... Die Zantim waren fast da, es blitzte in ihren Augen, einer drehte halb ab. Lares konnte das intelligente Funkeln sehen, als sie erkannten, dass er angriff, er sah, wie sie ihre Pläne überdachten, änderten... " Ignisphaero !!! " Er schleuderte den Feuerball von sich, und mit ihm die Astralenergie aus seinem Leib. Es war so viel auf einmal, dass es sich anfühlte, als würde man das Fleisch von seinen Knochen reißen. Er schnappte keuchend nach Luft, die Zeit rastete wieder in ihre normalen Bahnen ein, die Geräusche kehrten mit einem Knall zurück. Fauchend schnitt der Feuerball durch die Luft, schneller noch als die Zantim. Lares versuchte verzweifelt, ihn nicht aus den Augen zu verlieren, ihn zu lenken, hob schwach eine Hand, als könne er die Astralfäden mit den Fingern bewegen. Die Explosion, als der Ignisphaero den vorderen Zant traf, war gewaltig. Ein Flammenmeer breitet sich kreisförmig um den Herd aus, schleuderte den zweiten Dämon, Steine und Grasfetzen davon, als würde ein Kind Spielfiguren umwerfen. Lares riss die Arme vor das Gesicht, um die heiße Druckwelle abzuhalten, die ihn mit feurigem Schlag traf und beinahe aus dem Gleichgewicht brachte. Zu nah. Nur einen Lidschlag später, und er wäre selbst mit in den Explosionsherd geraten. Seine Ärmel begannen zu schwelen, und als er das bemerkte, wurde ihm auch der andere Schmerz bewusst: Die unangenehme Nebenwirkung, wenn man einen Feuerball in der Hand hält. Die Haut in seinen Handflächen war verbrannt, krebsrot und rußverschmiert, stellenweise begann sie Brandblasen zu werfen. Der Schmerz war so schlimm, dass er keinen Laut hervorbrachte, nur ein seltsames Luftausstoßen, dann biß er die Kiefer aufeinander und krümmte sich qualvoll, schlug hastig die Brände am Hemd aus. Die Feuer- und Rauchwolken verzogen sich langsam. Mit tränenden Augen suchte er die Wiese nach den Zantim ab. Hoffentlich, oh Hesinde, hoffentlich ... Ein verkohltes, rauchendes Etwas begann sich gerade zu verflüchtigen, als würde ein Schatten durch darauffallendes Licht zerstreut. Nicht einmal Asche blieb zurück. Ein Stein fiel ihm vom Herzen. Keuchend tappte er einige Schritte vor, sich immer noch umsehend. Wo war der zweite ? "Pendrain ...", rief Travian hinter im mit leiser Stimme. Lares brauchte einen Moment, um sich angesprochen zu fühlen. Blinzelnd drehte er sich um, die Hände unter den Achseln vergraben. Die drei Männer sahen ihn an, als wäre er der Zant: Ihre Augen waren geweitet, die Gesichter aschfahl, sie drängten rückwärts, die Bewegungen vor Angst lahm und starr. Er schaute mit wehem Gesichtsausdruck zurück. " Pendrain, was ... ?" " Ein Feuerball. Ihr müsst unbedingt verschwinden ..." Sie fanden auf der Füße zurück, sich gegenseitig helfend, und stolperten zurück, von ihm fort. "Feuerball ?!" " Ich bin Magier." Er zog seine Rechte hervor, zeigte ihnen das Siegel, soweit es noch zu erkennen war. "Die Dämonen sind wegen mir hier." Es fiel ihm schwer, all das auszusprechen. Diese Leute hatten gegenüber Magie großen Respekt, fast Angst, und dann auch noch gesagt zu bekommen, dass der heimatliche Hof wegen einem dahergelaufenen Kerl zerstört und alle Lieben getötet wurden ... Der Ausdruck in ihren Augen tat ihm weh. Wo waren die vertrauten, freundschaftlichen Blicke ? "Bitte. Flieht, solange nicht noch mehr auftauchen. Ich kann nicht ... noch einen Feuerball werfen." Sie starrten ihn an, rührten keinen Finger. Er wandte sich ab und stolperte auf das lichterloh brennende Gebäude zu. Die Tränen in seinen Augen rührten nicht nur vom dichter werdenden Qualm her. Der Hof war äußerlich intakt, aber schon bald entdeckte er die ersten Leichen. Knechte und Mägde waren an den Mauern zusammengesunken, ihr Blut und ihre Eingeweide über die Wände und den Boden verteilt. Gesichter, die er kannte und zu schätzen gelernt hatte, hatten den Blick in unbekannte Ferne gewandt, als ihre Körper zerstört wurden. Das Feuer erfasste die Haare einer Magd, die auf ihre Locken immer sehr stolz gewesen war. Lares' Kehle entwand sich ein ersticktes Schluchzen, während er auf dem Hof zum stehen kam. Es war grausig still, nur das Prasseln des Feuers wütete. " Zylya", flüsterte er stumpf, tastete mit Blicken die Leichen ab, aber entdeckte sie nicht. Wo konnte sie sein ? Was könnte sie beim Angriff getan haben ? Sich wehren. Womit ? Fieberhaft dachte er nach, das Feuer breitete sich schnell aus, ihm blieb nicht viel Zeit. Sein Stab. Der Magierstab. Er stand in seinem Zimmer in einer Ecke. Vielleicht hatte sie ... Mit einem Krachen brach ein orangefarbener Blitz durch die Hauswand zu seiner rechten. Instinktiv warf Lares sich nach vorne. Krallen schnitten durch die Luft, wo eben noch sein Kopf gewesen war, die riesige Dämonenkatze flog über ihn hinweg. Noch im Fallen tauchte Lares in die Astralwelt, ein Blauschleier legte sich über Zeit, Licht und Geräusche. Er rollte über die Rechte ab - und hätte beinahe aufgeschrien, als das verbrannte Fleisch auf den Boden traf, seine Konzentration wurde erschüttert, beinahe hätte er den Zustand, den er brauchte, um die magischen Fäden zu kontrollieren, verloren. Mit einem mentalen Kraftaufwand klammerte er den Schmerz aus, kam auf die Füße. Staub wirbelte in Zeitlupe um ihn herum auf, in der vor Hitze flimmerten Luft landete der Zant einige Meter entfernt auf dem Boden, Erschütterungswellen ließen Steinchen und verstreutes Stroh tanzen. Der Lares zog Astralfäden aus ihrer Verankerung an seinem Körper, ballte sie um seine Finger zu einem Keil, fixierte den Zant. Es war ein etwas kleineres Tier, die violetten Wellenmuster auf seinen Flanken saßen bedeutend enger als bei denen, die er schon gesehen hatte. Und er war verletzt, die eine Hälfte des Kopfes war geschwollen, ein Auge fast geschlossen. " Fulminictus !!!" Von unsichtbarem Hieb getroffen taumelte der Dämon mit einem Fauchen zurück, Lares schwindelte es bei dem erneuten Verlust von Astralkraft. Noch bevor er sich wieder richtig unter Kontrolle hatte, rannte er los und sprang durch das feuerumloderte Loch, das der Zant in die Mauer gerissen hatte, ins Innere des Hauses. Irgendjemand hatte gegen den Dämon gekämpft, hatte ihn verletzt. Zylya ... er musste Zylya finden. Und seinen Stab. Rauchschwaden ließen ihn husten, er stolperte beinahe über die Leiche eines der Küchenmädchen. Von Grauen erfüllt eilte er aus dem Raum in den Flur, von dem aus die Treppen nach oben ging, wo sich seine Kammer befand. Er hatte nicht mehr viel Astralenergie. Ohne den Stab war er verloren. Seine Hände pulsierten schmerzhaft und brannten wie wahnsinnig. Hoffentlich konnte er den Stab überhaupt halten. In weiten Sätzen rannte er die Treppe hinauf. Unten splitterte etwas unter einem gewaltigen Schlag, und mit einem Rumpeln stürzte etwas um. Der Zant folgte ihm. So schnell er konnte rannte er um die Kurve und stürzte beinahe. Langsam begann sich seine körperliche Erschöpfung wieder bemerkbar zu machen, die er über der Aufregung fast vergessen hatte. Nicht mehr lange, und er würde die Grenzen seiner Kraft erreicht haben. Im Lauf stieß er die Tür zu seiner Kammer auf, die er mit zwei anderen bewohnte, sein Blick irrte durch den Raum in die Ecke, wo sein Stab stehen müsste. Er war nicht da. Auf dem Boden eine Spur aus Blutstropfen, eines der Betten war zu Bruch gegangen, und als Lares sich den Boden etwas genauer fixierte, bemerkte er tiefe Kratzer in den Dielen. Klauenspuren. Mit einem Krachen landete der Zant auf dem Treppenabsatz. Mit einem heiseren Schrei stieß Lares sich vom Türrahmen ab und floh, der zweiten Treppe entgegen, die wieder nach unten führte. Jemand hat den Stab genommen. Jemand, der wusste, dass er magisch ist. Oh Zwölfgötter, lasst es Zylya gewesen sein ! Er erreichte die Treppe, griff nach dem Geländer - heißer Schmerz ließ ihn die Hand sofort wieder zurückziehen, aber er war so schnell, er hätte die Stabilität des Geländers gebraucht. Die ersten paar Stufen konnte er das Gleichgewicht gerade noch halten, aber dann, als der Zant selbst die Treppe erreichte und das Holz unter seinem Gewicht erbebte, war es vorbei. Lares stürzte, zog automatisch Arme, Beine und Kopf ein. Polternd fiel er die restlichen Stufen hinab, wurde dabei an die Wand geworfen, und als er endlich am Fuße der Treppe ankam, konnte er keinerlei Spannung aufrecht erhalten, sein Körper erschlaffte, ein übler Schmerz aus seinem linken Knie brandete in sein Bewußtsein und verlangte absolute Aufmerksamkeit. Verzweifelt versuchte er, diesen roten Horden Herr zu werden, seinen Körper so weit unter Kontrolle zu kriegen, dass er aufstehen konnte. Heißes Blut geriet ihm ins Auge, er konnte die Quelle nicht fühlen, sein Schädel brummte. Mehr mit purem Willen als aus körperlicher Kraft- seine Muskeln zitterten vor Überlastung - schaffte er es, den Oberkörper halb aufzurichten, als sein Blick den Zant erhaschte, der gerade oben am Treppenabsatz absprang. Alles in Lares' Kopf lief in Sekundenbruchteilen ab: Er bemerkte das astrale Zupfen, als wollte jemand seine Aufmerksamkeit erregen. Das Einfangen einer vertrauten Form aus dem Augenwinkel, ein hastiger Griff zur Seite. Die Erleichterung, dass es das war, was er vermutet hatte, als sich das Gefühl einstellte, irgendwie wieder vollständig zu sein. Er riß seinen Magierstab schützend vor sich, und nur einen Augenblick später krachte der Zant darauf. Lares hatte das Gefühl, seine Arme müssten brechen, zu zweit schlitterten sie fast zwei Schritte über die Flurdielen. Das geifernde Maul, die um den Stab geschlossenen, reißzahnbewehrten Kiefer der Bestie waren nur um Armlänge von seinem Gesicht entfernt, die Klauen lagen rechts und links wie Gewichte auf dem Stab und drückten seinen hilflosen Widerstand allmählich mit roher Gewalt weg. Das Holz schnitt tief in seine aufgesprungenen Handflächen. Muss etwas tun. Sobald er das Maul frei bekommt, hab ich keine Chance mehr. Astralwelt ... wacklig... Schlieren ... er bekam sie kaum zu fassen, die Fäden ... Die Tatzen des Zants hatten seinen Widerstand fast gebrochen, gleich, gleich würden seine Ellenbogen sich biegen. Die schwarzen, leeren Augen hielten seine mit ihrem wahnsinnigen, bluthungrigen Blick gefangen, der Triumph war in ihnen bereits beschrieben, völlig konzentriert auf den baldigen Sieg... Da ! Er ergriff die Astralkraft und schleuderte sie beinahe unkontrolliert von sich: "Fulminictus !!!" ... einen schrecklichen Moment lang dachte er, er hätte die Fäden doch nicht richtig geballt, und sie wären wirkungslos verpufft. Aber dann brüllte der Zant auf, stieß sich ab und wich einen Schritt zurück, schüttelte heftig den Kopf, um dem zweiten, plötzlichen Schmerz Herr zu werden. Mit letzter Kraft nutzte Lares den plötzlichen Schwung, den das Verschwinden des Gewichtes auf seinen Armen ihm verlieh, warf den Stab herum und hieb nach dem Dämon. Er traf. Mit einem beinahe bemitleidenswerten Laut erstarrte die Gestalt des Zants und flog dann auseinander wie Blätter im Wind. Lares starrte einen Augenblick auf die Stelle, wo das Untier gesessen hatte, und nutzte dann die Gelegenheit, um für einige Minuten in Ohnmacht zu fallen. Als er wieder erwachte, wünschte er sich, er hätte es nicht getan. Er war so erschöpft und hatte solche Schmerzen, dass er es sich nicht vorstellen konnte, jemals wieder aufzustehen. Seine Arme fühlten sich beinahe tot an, wäre nicht das heftige, pulsierende Brennen der Brandwunden gewesen, er musste sich bei der Rutschpartie über Treppe und Boden Splitter in den Rücken eingerissen haben. Sein linkes Knie war entweder gestaucht, verrenkt oder gebrochen, und sein Kopf dröhnte. Er fühlte, wie getrocknetes Blut auf seiner Haut spannte. Weitere Minuten lag er einfach nur da, schwer atmend, und zuckte jedes Mal zusammen, wenn er sich auch nur ein Stück bewegte. Seine Gedanken jedoch rasten. Mein Stab war hier. Wieso liegt er hier herum ? Hab ich das tatsächlich überlebt ? Es brennt noch. Meine Sachen sind noch oben. Das Verbandszeug. Ich kann nicht aufstehen. Wann wird das Feuer hier angekommen sein ? Bin ich bis dahin wieder fit ? Ich hab fast keine Astralenergie mehr. Zylya. Wo ist sie ? Der letzte Gedanke war es, der ihn in seiner Beharrlichkeit letztendlich wieder auf die Beine brachte. Er konnte die Unwissenheit kaum ertragen, immer wieder gaukelte seine Phantasie ihm schreckliche Bilder vor, auf welche Weisen sie gestorben sein könnte, eine grausamer als die andere. Er musste sie finden. Vielleicht war jede Sekunde kostbar. Wenn sie es war, die den Stab geholt hatte, und wer sollte es sonst gewesen sein, musste sie doch hier irgendwo in der Nähe sein. Sein Knie war offenbar weder gebrochen noch sonst wie offenkundlich verletzt, aber nichtsdestotrotz schmerzte es wie die Hölle, als er aufstand und an die Wand gelehnt Atem holte. Keuchend sah er sich um, Rauch quoll oben aus dem Flur. Mit einem Stöhnen riß er ein Stück Stoff aus seinem Ärmel, die ohnehin bis fast zum Ellbogen weggeschmort waren, hielt es sich vors Gesicht und eilte, so rasch er konnte, nach oben. Der Flur war mit Rauch gefüllt, trotz des Tuches musste er heftig husten, und als er mit dem Rucksack wieder aus dem Zimmer humpelte, brannte bereits die Treppe, die zur Küche führte. Er entdeckte plötzlich wieder die Blutspur am Boden. Wenn er ihr einfach folgte ... Etwas in ihm bekam bei Anblick der roten Tropfen Panik, er schob die erneuten Schreckensbilder so weit zurück, wie er irgendwie konnte. Der Schmerz in seinem Knie begann glücklicherweise abzuebben, ein weiterer Beweis, dass es nichts wirklich gravierendes war, aber nichtsdestotrotz kam er, besonders auf der Treppe, bedeutend langsamer voran, als er wollte. Er wickelte sich den Stofffetzen um die Rechte, um den Stab etwas schmerzloser halten zu können, damit er sich wenigstens aufstützen konnte. Da war ein mächtiges Loch in der Wand, nur einige Meter von der Stelle entfernt, wo er mit dem Zant gekämpft hatte. Er starrte es an. Verdammt, warum hatte er sich beim Aufstehen bloß nicht in diese Richtung gedreht? Er folgte mit Blicken der Blutspur. Sie hat den Stab hier verloren. Eine eiskalte Hand griff in seine Magengrube. Er sah zu dem Loch in der Wand. Oh Ihr Götter, er wollte dort nicht hingehen, nein, nein ... Vielleicht braucht sie deine Hilfe, Schwachkopf ! Mit einem Wimmern stolperte er vorwärts. Das dünne, brüchige Fachwerk war mit immenser Kraft nach außen gedrückt worden, überall lagen Lehmstaub und Trümmer. Die Blutspur endete direkt dort. Er schluckte, tastete sich langsam voran. Das Feuer erfasste mit einem Fauchen den Heuboden, der über den Quartieren lag, er duckte sich impulsiv. Schaute durch das Loch. Unweit des Kräutergartens, nur zehn Meter von hier entfernt, lagen zusammengesunken auf von Blut rotgefärbtem Schnee zwei Gestalten. Er riß den Kopf zurück und kniff die Augen zusammen. Nein ! Bitte, bitte nicht ...! Raus, jetzt beweg dich, vielleicht ist sie es gar nicht, und wenn sie es ist könnte sie dich brauchen JETZT MACH SCHON VERDAMMTER SCHWÄCHLING !!! Er zwang sich, einen Fuß vor den anderen zu setzen, stieg, mühsam das verletzte Bein nachziehend, durch die zerstörte Mauer, und ging auf die beiden zu; es war Zylya, er musste sie kaum ansehen, um das zu wissen; er wurde schneller, so viel Blut, überall war Blut ... Sie war über dem zweiten Körper, dem Mädchen Tanit, zusammengesunken, hielt ihn mit beiden Armen umklammert und halb unter dem Oberkörper verborgen, so dass er von dem Kind nur Rücken und Beine sehen konnte, ihr schönes, weißblondes Haar war von Blut fleckig rot gefärbt. Lares sank vor ihnen auf die Knie, sie hatten sich kein Stück bewegt, berührte sie vorsichtig an der Schulter. "Zylya ..." Sie war seltsam schlaff in seinen Armen, als er sie hochzog. "Nein ...", flüsterte er, "bitte ..." Er zog sie an sich, ihr Kopf rollte unkontrolliert in den Nacken, stieß gegen seine Schulter. Ihr Gesicht war blass, die Augen geschlossen, Haarsträhnen waren mit Blut daran festgeklebt, er strich sie ihr in einer sinnlos fürsorglichen Geste aus dem Gesicht, während ihm Tränen aus den Augen sprangen. Ein Alptraum. Das hier war sein schlimmster Alptraum. "Bitte ... sag doch was ... Zylya..." Erst jetzt fiel sein Blick auf das Mädchen. Er musste würgen und wandte ruckartig sich ab, zerrte Zylya von dem kleinen, zerfetzten Körper fort, in seiner Hast vergaß er sein verletztes Knie und schrie kurz auf, als er es verdrehte. "Oh Tsa ..." Zitternd versuchte er Zylya weiter weg zu ziehen, aber seine Kraft, nun doch endlich an einem Punkt angelangt, wo sie zu keinen weiteren Zugeständnissen an ihn mehr bereit war, reichte dazu nicht mehr. Warme Feuchtigkeit durchtränkte allmählich sein Hemd. Er sah an sich herab: Er war völlig blutverschmiert. "Tsa ..." Zylya hatte eine klaffende Wunde im Bauch, knapp über dem rechten Hüftknochen beginnend bis schräg hinauf zum Rippenbogen. Ihre Hosen waren von Blut schwarz gefärbt, sie war so kalt ... "Nein !!! Zylya, bitte, sieh mich an, mach die Augen auf ... verdammt ..." Seine Stimme brach, er presste sie an sich. "IHR GÖTTER TUT MIR DAS NICHT AN ! NEIN!!!!" Er wuchtete sie so herum, das er die Rechte zur Faust ballen und auf die Wunde pressen konnte, um die Blutung zu stoppen. Die Wunde war viel zu lang für diesen Versuch. "Gebt sie mir zurück ... Zylya ..." Er zog ihren Kopf zu sich heran und umarmte sie, wollte sie wärmen. Tränen flossen über sein Gesicht, tropften in ihr Haar. "Tsa, ich bitte dich ..." Seine Stimme war nur noch ein Flüstern. Etwas kitzelte an seinem Hals. Er riß die Augen auf, konzentrierte sich auf diese Empfindung. Atem. Sie atmete. Hastig schob er sie von sich, legte sein Ohr über ihr Gesicht und lauschte, tatsächlich, Atem ! Wilde Hoffnung flackerte in ihm auf, er legte sie schnell, aber vorsichtig auf den Rücken in den Schnee, er hatte nicht mehr die Kraft, einen mächtigen Balsam zu sprechen, aber er wollte verdammt sein, wenn er es nicht versuchte, wenn er diese Wunde nicht schließen konnte ! Solange sie noch lebte, hatte er eine Chance sie zu heilen. Gerade wollte er beginnen, den Zauber vorzubereiten, als er wieder Dämonenpräsenz fühlte. Er erstarrte, hatte das Gefühl, in einen tiefen Abgrund zu fallen. Das kann nicht wahr sein ! Nicht noch einer! Nicht jetzt ! Zitternd drehte er sich um, nur einige Meter von ihm entfernt saß ein mächtiger Raubkatzendämon im schmelzenden Schnee, sein Schwanz schlug im Jagdfieber hin und her, er war sprungbereit, wartete aber auf irgend etwas. Lares wusste, wenn der Zant sich wirklich entschied, ihn anzugreifen, hatte er keine Chance. Er war zu ausgelaugt, um schnell reagieren zu können, seine Arme hatten kein Quentchen Kraft mehr, und mit dem verletzten Knie konnte er nicht weglaufen, mal ganz abgesehen davon, dass er dann Zylya hätte hier liegen lassen müssen, und das war etwas, was er sich selbst niemals wieder würde verzeihen können. Sie noch einmal zurücklassen. Außerdem - vor einem Dämon weglaufen ? Ein bitteres Grinsen schob sich auf sein Gesicht, er tastete nach seinem Stab. Er würde sein Leben teuer verkaufen. Er schloss die Finger um das glatte Holz, hob die Waffe und richtete sie mit dem Kopfstück voraus auf den Zant. Der Dämon beobachtete ihn interessiert, ohne einen Muskel zu rühren. Sie sahen sich an, ein stummes Duell. Lares bemerkte, dass er diesen Zant kennen musste, denn sein Fell war an der linken Körperhälfte völlig verschmort und rußgeschwärzt: Es war der zweite Dämon, der, den der Ignisphaero davongeschleudert hatte. Lares hatte zwar inzwischen eine ungefähre Ahnung davon, wie viel Schaden er anrichten musste, um einen Zant zurück in die Niederhöllen zu befördern, aber er wusste nicht, wie viel bei diesem noch nötig war. Rondra steh mir bei ... " Du willst nicht im Ernst kämpfen", sagte der Dämon jetzt. Seine Stimme war so tief und grollend, das Lares sie in seinen Knochen spürte. Er hatte davon gehört, dass Dämonen der Sprache mächtig waren, aber es überraschte ihn doch, und in jeder anderen Situation wäre er vor Schreck halb gestorben, aber seine Nerven waren schon viel zu abgenutzt, als dass es ihn jetzt wirklich beeindruckt hätte. Eine seltsame Ruhe ergriff Besitz von ihm. "Doch. Ich werde kämpfen." Der Dämon musterte ihn, Lares hätte beinahe aufgelacht, natürlich, er musste beeindruckend aussehen: Gesicht und Hemd blutüberströmt, verbrannte Hände, von den eine mit einem schmutzigen, blutigen Tuch umwickelt war, vor Erschöpfung zitternder Körper, zerrissene Kleidung, Tränenspuren auf den Wangen und von Staub und Asche bedeckt. Wirklich sehr glaubwürdig. Eine Weile war es still, die einzigsten Geräusche waren das Prasseln des Feuers und Lares' keuchender Atem. Dann spannte sich der Dämon, und Lares schob sich ein Stück vor Zylya, machte sich bereit. " Du kannst nicht beides tun. Kämpfen und sie schützen. Und du hast keine Astralkraft mehr." " Die Göttin Hesinde verlieh mir einen Teil ihrer Kraft", antwortete Lares in mehreren Atemstößen. "Und wenn meine eigene Kraft nicht reicht, werde ich ihre verwenden, um dich dahin zurückzuschicken, wo du hergekommen bist !" " Das kannst du nicht." " Doch, das kann ich." Wieder ein stummes Blickduell. Die Zeit stand still, wenn der Dämon ihm nicht glaubte ... Lares bemühte sich, seinem Gesicht die nötige Entschlossenheit zu geben, es fiel ihm schwer, seine Züge überhaupt irgendwie zu modulieren, solche Angst hatte er. Und gleichzeitig hatte er irgendwie gar keine Angst. Es war, als stünde er auf einem dünnen Seil über einem Abgrund, und wenn er sich nur die geringste, auch nur gedankliche Schwäche erlaubte, würde er das Gleichgewicht verlieren und stürzen. Dann erhob sich der Dämon und wandte sich halb ab. "Ich lasse dich... für dieses Mal..." - er atmete ein, ein Geräusch, als würde er vor Erwartung beinahe bersten - "am Leben. Zeit bedeutet mir nichts, ob ich dein Blut jetzt oder ein andermal trinke, ob ich meine Zähne heute oder morgen in dein Fleisch bohren darf, ist mir gleichgültig." Er schaute Lares abschätzig an. "Dich jetzt zu töten, wäre langweilig." Seine Augen glitzerten böse, als er Lares ein letztes Mal fixierte. "Wir sehen uns wieder, Lares Alfaran. Und deine Freundin ... werde ich sicher auch ... wieder ... sehen ? Schmecken ?" Ein grollendes Lachen folgte, dann trottete der Zant davon. Lares ließ den Stab fallen, er hätte ihn keine Sekunde länger in der Waagerechten halten können. Lange Momente starrte er dem Dämon hinterher, der keine Anstalten machte, umzukehren. War er tatsächlich Golgari von den Schwingen gesprungen ? Mühsam wandte er sich wieder Zylya zu, nahm sich einen Augenblick die Zeit, ihr Gesicht zu betrachten - am Leben ! Noch waren sie beide am Leben ! - während er den Stoff von der Rechten wickelte. Dann schob er die zerrissene Bluse beiseite, legte beide Hände auf die Wunde und unterzog die letzten goldenen Astralfäden an seinem Körper einer raschen Kontrolle. Es war nicht genug, um die zerstörten Organe zu heilen und die Wunde zu schließen. Fast ohne zu zögern tastete er tiefer in sich hinein, bis er die rot sprudelnde Quelle seiner Lebenskraft fand. Etwas Angst hatte er schon ... ob sie sich anfühlte wie die astrale Meditation, die Blutmagie ? Er sah sich noch einmal nach dem Zant um. Verschwunden. Vorsichtig begann er die Astralfäden von seinem Körper abzuziehen und in einem bestimmten Muster um seine Hände zu legen, zu einer Art Trichter, der die Astralkraft in Lebenskraft für sie umwandeln sollte. Minutenlang fütterte er diesen Trichter vorsichtig, ganz vorsichtig mit Energie, hielt die Augen geschlossen, um sich besser konzentrieren zu können. Er mochte diesen Zauber, Balsam Salabunde, er hatte etwas ungeheuer ... beruhigendes und positives, fast meditatives. In regelmäßigen Abständen flüsterte er Formeln, wie ein Mantra. Dann kam der Moment, wo seine Astralkraft aufgebraucht war. Seine Augenbrauen rückten näher zusammen. "Bring das Maß der roten Quelle in dir, den du gebrauchen willst, in Fadenform, damit du sie so verweben kannst, wie du es mit deiner Astralkraft tust. Die Macht deiner Lebenskraft ist dem astralen Atem gleichwertig, doch ist es gefährlich, sie zu gebrauchen. Wandle nie mehr davon um als bis zu einem bestimmten Punkt, denn ab diesem Punkt greifst du dein Sirkayan an, den Hauch des Lebens, den die Götter dir gaben, und du wirst dauerhaft weniger Kraft haben als zuvor oder noch schlimmere bleibende Schäden erleiden." Die Stimme seines Meisters für Magietheorie drang ganz klar durch seine Erinnerung zu ihm. Behutsam griff er in die rote Quelle, nahm davon eine kleine Menge und formte sie zu einem neuen Trichter, ein Trichter, der die Lebenskraft in gebrauchsfähige Fäden verwandeln sollte. In der Peripherie spürte er ein kurzes, schmerzhaftes Reißen und einen Strom heißen Blutes, der über sein Gesicht floß. Bebend holte er Atem, versuchte ruhig zu bleiben. Dann lenkte er seine Lebenskraft durch den Trichter. Die Wunden an seinem Rücken vergrößerten sich, neue rissen an Bauch und Brust auf, Blut floß seinen Körper hinab. Ein gepresster Schmerzenslaut kam über seine Lippen, er kniff die Lider zusammen. Nicht aufhören ! Langsam webte er die neuen, dunkelrot gefärbten Fäden in den Balsamtrichter. Minuten später fühlte er den kritischen Punkt nahen, sein Herz begann immer schneller zu schlagen, er hatte den Eindruck, es würde einige Male aussetzen. Er blinzelte, Schweiß tropfte von seinem Kinn. Zylyas Wunde hatte sich geschlossen. Er löste beide Trichter auf, ließ die Konzentration fahren. Der Schmerz stürzte auf ihn ein wie ein Wasserfall, er brachte keinen Laut hervor, krümmte sich über ihr zusammen. Lange Augenblicke konnte er wieder denken noch sich irgendwie bewegen, bevor er in sich zusammensackte und schwer atmend versuchte, sich wieder zu fangen, beide Hände an der Brust zu Fäusten geballt, als könnte ihm das dabei helfen. Wir können hier nicht bleiben. Was, wenn der Dämon es sich anders überlegt ? Wir müssen hier weg. Na komm schon, du bist schon mit schlimmeren Schmerzen rumgelaufen. Na gut, eine Lüge. Aber so ein großer Unterscheid war's nicht. Also hoch mit dir. Na komm schon. Hoch. Auf die Füße, Lares. Nicht hier rumhängen wie ein gekochter Flusskrebs. Er hob den Kopf, presste verbissen die Kiefer aufeinander, zog die Luft durch die Zähne. Er musste sich irgendwie verbinden, Blutgeruch lockte nicht nur Dämonen an. Er tastete nach einem Rucksackriemen, um ihn von den Schultern zuschieben, und hätte beinahe aufgeschrieen. Und die Finger muß ich mir umwickeln. So kann ich ja nichts anfassen. Vorsichtig, mit so wenig Berührungsfläche wie möglich, knüpfte er den Rucksack auf und suchte darin nach Verbandszeug. Keines da. "Scheiße", murmelte er ohne echten Enthusiasmus, irgendwie war ihm mit den letzten Ereignissen die Fähigkeit, etwas schrecklich zu finden, aufgebraucht worden. Aber er fand ein Tiegelchen mit Wundsalbe. Als er es musterte, flogen seine Gedanken zurück zu dem Moment, wann er es gekauft hatte. In einem Dorf, vor fast einem halben Jahr. Zylya hatte sich schrecklich aufgeregt, dass er sich in der brütensten Mittagshitze auf die Suche nach einem Medicus machte, um Salbe zu kaufen, die sie nicht wirklich brauchten. Er hatte das ja selbst nicht gern gemacht, die Sache war nur die gewesen, dass es so heiß war, das wirklich sonst niemand außer ihnen draußen gewesen war, und das hatte seiner Meinung nach die Chance, dass sich jemand an sie erinnern konnte, beträchtlich gesenkt. Aber im Schatten geblieben war sie nicht, sie war ihm hinterhergelaufen und hatte ihn beschimpft, und als er anfing, sich darüber zu amüsieren und sie ein wenig hochzunehmen, hatte sie ihn mit Tannenzapfen beworfen. Ein Lächeln glitt über sein Gesicht, ein Schatten aus besseren Zeiten war diese Erinnerung, keine wirklich guten Zeiten, aber allemal besser als jetzt. Er sah sie an. Und sah gerade noch, wie ihr Blick von ihm abglitt und sie wieder das Bewusstsein verlor. "Zylya !" Er beugte sich rasch über sie, berührte ihre Wange. "Zylya ?" Sie kehrte nicht zurück, ihr Atem ging noch immer sehr flach. Langsam richtete er sich wieder auf, ohne den Blick von ihrem Gesicht zu nehmen, nahm ganz langsam, fast widerwillig die Fingerspitzen von ihrer Haut. Plötzlich, wo die Anspannung von ihm gewichen war, war es wieder seltsam, sie zu berühren, als würde er etwas anfassen, das nach ihm schnappen könnte. Sie hatten seit Tagen nicht miteinander gesprochen, sich seit Tagen kaum angesehen. Ob sie wohl jemals wieder mit ihm umgehen würde wie zuvor ? Ob sie ihm jemals verzeihen würde ? Und ob, ja ob er sie jemals würde behandeln können wie vorher, solange diese Worte zwischen ihnen standen, die schrecklichen Worte von dem Tag, als sie sich gleichzeitig einander mehr genähert und weiter voneinander entfernt hatten als je zuvor ? Und doch ... solange sie lebte ... solange sie beide lebten ... würde es auch eine Chance geben, sich wieder zu verstehen. Und sollte es Jahre dauern. Etwas in ihm schrie bei der Vorstellung, sie nicht unbefangen ansehen, mit ihr reden und lachen zu können, am Ende jahrelang, auf wie ein waidwundes Tier. Der Gedanke war... Er schob ihn stracks zur Seite, für heute war es genug, es reichte, mehr konnte er nicht bewältigen, also weg damit ! Er konzentrierte sich auf die Behandlung seiner Brandwunden, rieb sich vorsichtig mit Salbe ein und umwickelte beide Hände dick mit Stoffstreifen, die er aus seinem Hemd riss. Dann untersuchte er Zylyas Körper nach weiteren Wunden und fand auch noch einige kleinere an ihrem Rücken, zum Glück aber keine ähnlich schlimmen wie die am Bauch. Da er sich nicht überwinden konnte sie auszuziehen, um ihren Rumpf zu verbinden, wickelte er die Hemdstreifen um ihre Kleidung. Eigentlich der falsche Moment für Schüchternheit, aber sein Hemd war schmutzig, ihr eigenes war sauberer, und vielleicht würde das Risiko, sich Wundbrand einzufangen, so geringer sein. Wundfieber, ja, überlegte er, als er sich mit starrem Gesicht die letzten Hemdstreifen um den Oberkörper zurrte, um die Blutung zu stoppen, das würde jetzt wirklich gerade noch fehlen. Ein Teil des Hauses fiel in sich zusammen, Asche wirbelte weit hinauf in den Himmel. Er erschrak, wurde sich wieder all der Menschen bewusst, die auf diesem Hof lebten ... gelebt hatten. Hoffentlich sind Travian, Radul und Hagen davongekommen ... Er sah hinüber zu Tanits kleiner Leiche. Er hatte das Mädchen gemocht, hatte es gerne gesehen, wenn sie und Zylya beisammen gesessen und gekichert hatten, als wären sie zwei kleine Mädchen und nicht nur eines. Obwohl ihre Anwesenheit Zylyas Gedanken auch in die Vergangenheit zu Juraviel gerissen hatte. Zumindest hatte er das vermutet, wenn Zylya in einem Moment, in dem sie sich unbeobachtet fühlte, das Mädchen mit einem stumpfen, leidenden Blick betrachtet hatte, und er vermutete inzwischen auch, dass ihr Ausbruch am Holzschuppen etwas damit zu tun hatte. Ja, wenn das stimmte, wenn sie an Juraviel gedacht hatte, während sie weinte und er ... er konnte ihre Reaktion fast verstehen. Er starrte auf seine Finger. Er hätte fragen sollen. Irgendwann. Du bist schon ein dummer Arsch. Hast ihren Hass verdient ... hoffentlich hasst sie mich nicht... Wackelig stand er auf, kämpfte gegen die schwarzen Nebel, sie vor seinen Augen wallten, an, ging hinüber zu Tanit, versuchte, sie so wenig wie möglich anzusehen, als er sie aufhob - erstaunlich, was so ein Körper alles leisten konnte, seine Muskeln waren so erschöpft, dass sie schon fast wieder widerspruchslos arbeiteten - und sie zum Haus trug. Legte sie hinter dem von Rauch gefüllten Durchbruch ab, hustete. Seine Lungen kratzten inzwischen erbärmlich, ihm war schlecht. Einen Moment überlegte er, Zylyas Sachen noch zu holen, aber just in diesem Moment schlugen die Flammen durch das Dach des Gesindetraktes. Zu spät. Nun, es wäre ohnehin nichts wirklich wertvolles gewesen ... hoffte er. Zylya war immer sehr eigen mit ihren Sachen. Vor allen Dingen mit ihrem Geld. Er ging zurück zu ihr, betrachtete sie. Wärme durchflutete sein Herz, er seufzte. Und wenn sie ihn hasste. Er liebte sie. Fröstelnd suchte er in seinem Rucksack nach Kleidung, streifte sich ein dunkelbraunes Hemd über, wusch sich mit Speichel und dem letzten Stofffetzen das Blut aus dem Gesicht, so gut es ging. Die Sonne am Horizont begann unterzugehen. In der Nacht würde es kalt werden. Hier war es wegen des Feuers warm, aber da draußen ... Er schaute auf Zylya, sie durfte nicht auskühlen. Er wickelte sie vorsichtig in den rostroten Mantel, der zwar die Verschleißerscheinungen zweier Jahre Wanderschaft zeigte, sie aber wärmen würde. " Zylya ? Hörst du mich ? Kannst du aufstehen ? Wir müssen weg hier." Sie gab einen Laut von sich, ihre Lieder zitterten kurz, aber sie konnte sich offenbar nicht bewegen, wenn sie überhaupt wirklich bei Bewusstsein war. Er seufzte erneut. Ihr Götter, Tsa, gebt mir Kraft. Firun, Hesinde, verwischt unsere Spuren, verwirrt den Dämon, lenkt ihn tief ins Land, bis wir in Sicherheit sind. Bitte. Ich bitte euch. Ich flehe euch an... Mühsam wuchtete er ihren schlaffen Körper hoch, legte ihn sich über die Schultern. Soweit gekommen, musste er erst einmal ausruhen, keuchte vor Anstrengung, oh nein, so konnte er sie nicht lange tragen, sie war zu schwer für ihn. Meine Güte, du hast in der letzten Zeit schon viele Kartoffelsäcke getragen, die schwerer waren als sie. Bestimmt. Zumindest eine Weile, um vom Hof wegzukommen, würde er es schon schaffen. Und bis dahin war sie sicher wieder wach und konnte selbst laufen. Sie haßte es ja, Hilfe annehmen zu müssen. Sobald sie es merkte, würde sie darauf bestehen, runtergelassen zu werden. Ja, genau. Es dauerte sicher Stunden, bis er sich er sich auf die Beine gekämpft hatte, selbst mit Hilfe des Stabes als Stütze war es fast unmöglich, und als er endlich stand, hatte er das Gefühl, sein Knie sei inzwischen wirklich gebrochen. "Verdammt, du solltest etwas abnehmen", murmelte er und tappte langsam los, schwer auf den Stab gestützt. Ohne zurückzusehen, ließen sie er den brennenden Hof, der ihnen zwei Monate lang Heimat gewesen war, hinter sich. Aber der Schein des Feuers erhellte den Himmel noch lange, selbst nach Einbruch der Dunkelheit. Kapitel 5: Dunkelheit --------------------- Dunkelheit Lares. Tsa 27 Hal. Es war eine kühle Nacht. Lares zitterte, dämmerte aus den Untiefen seiner Ohnmacht an die Oberfläche. Seine Gedanken, sein ganzer Körper waren schwer wie Blei. Dumpf pochte vager Schmerz in sein Bewusstsein, weiche Kälte kroch in ihn. Er war so müde, so unendlich müde ... Das Klappern seiner eigenen Zähne band ihn an die Wirklichkeit. Momentelang versuchte er, es aufzuhalten, dann brummte er unwillig und blinzelte. Er sah in einen samtig blauen Ausschnitt des nächtlichen Sternenhimmels, umrahmt von rauschendem Blattwerk. Wo bin ich ... ? Erinnerungsfetzen schlichen gehorsam herbei. Er legte eine Hand über die Augen, versuchte, sich zu konzentrieren. Die blauschwarzen Nebelschwaden der Bewusstlosigkeit wallten gleich ruhelosen Geistern durch seinen Kopf. Der Kampf ... die gedämpften Laute seiner Stiefel auf dem Boden, regelmäßig, endlos. Das Einhalten jener Monotonie war das einzigste, was seinen Körper auf den Beinen hielt, das und der Gedanke, dass sie nicht aufwachte, nicht aufwachte, einfach nicht aufwachte ... Zylya. Sein Magen krampfte sich mit einem Ruck zusammen, die Lebensgeister kehrten schlagartig in ihn zurück. Die Bruchstücke der Vergangenheit setzten sich anstandslos zusammen. Momentelang starrte er geradeaus, tastete sich langsam, vorsichtig durch die Ereignisse. Mühsam setzte er sich auf, die Decke rutschte an ihm hinab. Der Verband um Brust und Rücken spannte, aber die Wunden machten sich kaum bemerkbar. Die Heilkräfte der Anderen waren wirklich gut ... Wieder blinzelte er, schüttelte leicht den Kopf. Sein Blick fiel auf den nächtlichen Lagerplatz. Kassandra schlief nicht weit von seinen Füßen, in eine abgenutzte Decke gekuschelt, ihr kupfernes Haar glänzte im Licht des niedrigen Feuers. Einen Moment betrachtete er sie, es war so lange her, dass er sie hatte schlafen sehn, Jahre ... wie viel sich seitdem verändert hatte. Er fasste sich ins Haar. Es war spröde und trocken von Schweiß, Blut und Asche. Resigniert ließ er die Hand sinken. Wieso versuche ich überhaupt, nicht an sie zu denken ? Er wandte den Kopf zur Seite und sah Zylya an, die noch genauso da lag, wie er sie zuletzt gesehen hatte, auf dem Rücken, keinerlei Spannung in ihrem Körper. Es war so ... entmutigend ... Warum erwachte sie nicht ? Ihre Wunden waren nicht tödlich, sie hatte sich keinen Wundbrand eingefangen, soweit er das beurteilen konnte ... Warum erwachte sie nicht?!!! Der Gedanke schmerzte tief, würgte ihn. Er zog die Knie an und umschlang sie mit den Armen, zitterte vor Kälte und griff nach seiner Decke. Seine Hände waren irgendwie behindert ... er hob sie vor die Augen. Sie waren noch immer mit Bandagen umwickelt. Dankbar, sich ablenken zu können, knotete er sie auf und wickelte sie ab. Die Haut in seinen Handflächen war rosig und sauber, gesund, gesünder als der ganze Rest von ihm. Mit einem sarkastischen Lächeln musterte er sie, kalter Wind blies ihm ins Gesicht. Er schauderte und wickelte sich in die Decke. Minuten starrte er geradeaus, versuchte, seinen Gedanken keine Richtung zu geben. Es funktionierte nicht lange. Er sah in ihr blasses, fast marmornes Gesicht. Hoffentlich fror sie nicht ... nach kurzem Zögern ergriff er einen Zipfel ihrer Decke und zog sie etwas höher. Er fühlte einen Kloß in seiner Kehle aufsteigen, er erstarrte halb, spürte Tränen seine Augen füllen. Sofort presste er die Lider zusammen und warf sich zurück, wenn er einmal begann zu weinen, er wusste, seine mühsam aufrechterhaltene Selbstbeherrschung würde zusammenbrechen wie ein Kartenhaus. Er zitterte, nicht mehr nur vor Kälte ... sein Herz tat so weh ... es tat so weh ... Plötzlich musste er an seinen Vater denken. Für einen Augenblick wunderte er sich, wo dieser Gedanke so plötzlich herkam. Die Erinnerung schob sich einfach vor seine Augen. Er war damals noch sehr klein gewesen, vier oder fünf Jahre alt. Sie hatten gerade wieder ein Dorf verlassen, in dem sie fast ein Jahr gelebt hatten, und reisten weiter. Seine Freunde hatten zusammengelegt und ihm zum Abschied ein Holzpferdchen gekauft, weil er nie richtiges Spielzeug besessen hatte. Dafür war nie Geld da gewesen. Er hatte im Schoß seiner Mutter gelegen und geschluchzt, mit dem Pferdchen im Arm, laut geweint, weil er nicht schon wieder weiterziehen wollte, weil er nicht schon wieder Menschen, die er so mochte, zugunsten einer neuen Siedlung und neuen Freunden zurücklassen wollte. Er wollte bei ihnen bleiben, er wollte sie nicht aufgeben müssen ... es war, als würde er entwurzelt werden, wieder einmal, und vor ihm lag eine scheinbar endlose Kette voll solcher Trennungen, gerade wenn er sich wieder an jemanden gewöhnt und gebunden hatte ... Er hatte seine Eltern angeschrieen, warum sie reisten, warum sie ihn nicht dort ließen, warum sie ihm das antaten, warum sie so grausam waren. Seine Mutter hatte ihn an sich gedrückt, aber er hatte nicht aufgehört zu weinen, und irgendwann hatte sein Vater die Zügel losgelassen und ihn geohrfeigt. Lares war sofort verstummt, mehr vor Schreck als vor Schmerz. Er wurde nicht oft geschlagen. Sein Vater sah ihn an, streng, ernst. "Lares. Hör auf zu heulen ! Davon wird sich weder etwas ändern noch etwas besser werden." " Aber ..." schluchzte der Junge, "aber ... ich will nicht weg !" "Es ist Träumerei, sich an fremde Menschen zu binden und sich vorzumachen, man könne immer bei ihnen bleiben. Du wirst in deinem Leben immer wieder Menschen verlassen müssen, die du liebst. " " Nein !" rief Lares in verzweifeltem Trotz. " Harad", versetzte seine Mutter mit leiser Stimme. "Das versteht er doch noch nicht ..." Harad Alfarans Gesicht zeigte kein Mitleid. "Doch. Der Tag wird kommen, an dem du groß bist und deine eigenen Entscheidungen triffst. Du musst nicht dein Leben auf der Straße verbringen, wie wir es tun. Du wirst dich vielleicht dafür entscheiden, einen Beruf zu erlernen, dich in einer Stadt niederzulassen und Frau und Kinder zu haben. Aber das wirst du nicht tun können, ohne uns zu verlassen." " Aber ich will nicht ... dass ihr weggeht ... !" Wollte sein Vater ihn quälen ? Wollte er ihn nicht mehr bei sich haben ? War er so eine Last ? "Warum bleibt ihr nicht auch in der Stadt?!" " Weil wir die Lehren der Göttin zu denen bringen wollen, die sie brauchen." Die Stimme seines Vaters wurde ruhig, erstaunlich geduldig. "In der Stadt ist Hesinde den Menschen näher als auf dem Land. Die Menschen brauchen ihre Gaben, um mündig zu sein, aus der Welt des Aberglaubens und des Unwissens, die nur Böses verschuldet, aufzutauchen. Die Menschen auf dem Land brauchen uns. Die Göttin kommt durch uns zu ihnen, zu jenen, die nicht von selbst zu ihr finden können." Lares klammerte sich an das Gewand seiner Mutter, verstummte endlich. " Deswegen können wir nicht an einem Ort bleiben, wenn wir den Menschen wirklich helfen wollen, Lares. Erstens brauchen auch andere als jene, die wir bereits besucht haben, Hesindes Gaben, und zweitens müssen die Menschen lernen, selbstständig mit erworbenem Wissen umzugehen, wie ein Kind lernen muss, selbst zu laufen." Eine Pause, dann strenger: "Und wie ein bestimmtes Kind lernen muss, dass es Dinge gibt, die wichtiger sind als andere." Lares vergrub das Gesicht an der Brust seiner Mutter, begann aufs Neue zu schluchzen. Er verstand das, er verstand das alles, er wollte der Göttin und den Menschen auch helfen, aber der Schmerz in ihm nahm deshalb nicht ab, im Gegenteil ... " Lares. Mein Junge." Er spürte die Hand seines Vaters in seinem Haar, sanft, tröstend. "Auch das Gefühl, dass du jetzt spürst, wird vorüber gehen. Du wirst dich daran gewöhnen, solchen Schmerz zu ertragen. Jeder Schmerz lässt sich ertragen, wenn es etwas gibt, dass ihn aufwiegt. Auch wenn es niemals einfach ist. Sich selbst unter ein höheres Ziel zu stellen und dafür Leiden in Kauf zu nehmen. Verstehst du ?" " Ja", flüsterte er erstickt. " Gut." Ein aufmunterndes Wuscheln durch sein Haar. "Du bist ein lieber, netter Junge. Du wirst schnell neue Freunde finden. Und ihnen allen helfen, denn mit uns kommt Hesindes Segen zu ihren Eltern und somit auch zu ihnen. Und du willst doch, dass es denen Freunden gut geht, oder ?" " Ja." " Na also. Dann hör auf zu jammern. Deine Mutter fängt ja schon an zu weinen." Erschrocken sah Lares auf. Wirklich, seine Mutter hatte den Kopf gesenkt, und Tränen glitzerten auf ihren Wangen. "Mama ? Mama, tut mir leid ... Mama ... ich will nie wieder heulen ... tut mir leid ..." " Schon gut, mein Schatz, schon gut ..." Sie drückte ihn an sich. "Weißt du, ich vermisse sie ja auch ..." Hier verschwamm die Erinnerung wieder. Lares schloss die Augen. Einige Tränen lösten sich von seinen Wimpern und rollten seine Wangen hinab. Es stimmte, er hatte es gelernt, ein schmerzendes Herz zu ertragen. Es hatte jedes Mal aufs Neue weh getan, aber er hatte es durchgestanden. Er war inzwischen von so vielen Freunden getrennt worden. Er war von seinen Eltern getrennt worden. Er war von Frauen getrennt worden, die er geliebt hatte. Und er lebte noch immer. Sein Herz schlug noch immer. Er war noch immer fähig zu fühlen. Er war noch immer Lares. Und doch hatte er das Gefühl, nicht anders als der kleine Junge zu sein, der den Schmerz über den Verlust geliebter Menschen kaum tragen konnte. Er war einfach nicht so stark ... er war es nie gewesen. Zylya. Sie hatte er wiedergefunden. Er hatte einen Menschen, den er verloren geglaubt hatte wie so viele andere, wiedergefunden. Und nicht nur das. Sicher, vielleicht hatten sich all seine Sehnsüchte nach einem Wiedersehen mit alten Freunden auf sie konzentriert, vielleicht hatte er sie einfach als Erfüllung alter Wünsche, als Linderung alten Schmerzes gesehen. Aber er spürte irgendwie, dass es noch mehr war, was sie anders machte, was sie von all jenen anderen unterschied. Irgendwann, irgendwie waren die Fäden, die seine Emotionen um sie banden, ohne dass er diesen Prozess gleich gemerkt hatte, so stark geworden, dass er wusste ... wenn er sie verlor ... das würde der Schmerz sein, den er nicht mehr würde ertragen können. Das würde der Schmerz sein, der ihm letztendlich das Genick brach. Ein Laut ließ ihn aufhorchen. Sie bewegte sich ? Er sah über seine Schulter zu ihr hinab, wusste nicht, ob er sich Hoffnung gestatten durfte. Ihre Augen waren einen Spalt weit geöffnet, fixierten ihn. Er fuhr leicht zusammen vor Überraschung, vor Erleichterung, vor Freude. Und doch hatte er Angst. Schreckliche Angst davor, dass sie wirklich aufwachte. Dass sie sich an alles, was zwischen ihnen geschehen war, erinnerte. Ihre Lippen zuckten. Er holte Luft, um etwas zu sagen, aber ihm fiel nichts ein. Sein Kopf war wie leergefegt. Er konnte sich nicht bewegen, war wie erstarrt. Sie hauchte etwas in die Nachtluft, das er nicht verstand, ihre Hand bewegte sich unter der Decke hervor, langsam, wie in Trance. Tastete nach ihm. Er hielt die Luft an. Er wollte sie ergreifen, Zylya berühren, er wollte nichts mehr als das, aber die Angst lähmte ihn. Wenn diese Bewegung nun gar nicht das bedeutete, was er dachte ? Vielleicht wollte sie bloß mal ihre Finger bewegen ? Wenn sie nicht ihn meinte ? Wenn sie Kassandras Hand wollte ? Sein Herz entschied schlicht über seinen Kopf hinweg, er fasste nach ihrer Hand, hielt sie fest. Er war einen Moment lang ein wenig verwundert, normalerweise setzte sich eher sein Kopf durch ... Aber ihre Haut zu spüren war gut, so gut ... Ihre Finger krümmten sich mit einer Kraft um seine, die kaum mit ihrem apathischen Zustand in Verbindung zu bringen war. Er erschrak fast ein bisschen. Ihr Blick ... freute sie sich ? Er traute sich nicht zu glauben, dass dieses schwache Lächeln, dass ihr Gesicht erhellte, ihm galt, so verzweifelt er sich auch wünschte, er könnte sich es wenigstens vormachen. Sie hatte ihm deutlich klar gemacht, dass sie seine Gefühle nicht erwiderte ... und doch spürte er in diesem Moment, dass die Hoffnung in ihm noch nicht ganz zerstört war. Er wusste nicht, wie lange ihre Hände ineinander lagen. Vielleicht waren es Augenblicke, vielleicht waren es Minuten. Irgendwann flatterten ihre Lider jedoch plötzlich, der Griff um seiner Hand erschlaffte. Sie flüsterte etwas in die Nacht, undeutlich. Im ersten Moment verstand er es nicht. Ihre Hand glitt aus seiner. Er versuchte, die Laute zu rekonstruieren. Die Bewegung ihrer Lippen zu einem Wort zu formen ... Juraviel. Sie hatte "Juraviel" gesagt. Sein Herz gefror. Er vergaß zu atmen, er vergaß zu blinzeln, eine schwarze Leere stülpte sich über seine Gedanken. Bewegungslos trieb er in Gleichgültigkeit, jener Gleichgültigkeit, die sich schützend vor den Geist schiebt, wenn der Schmerz zu schlimm wäre, dränge er hindurch. Alles war taub. Juraviel. Sie liebt ihn noch immer. Sie vertraut auf ihn, ruft nach ihm, damit er ihr die Kraft gibt, gesund zu werden ... ich bedeute ihr nichts dergleichen ... ich kann ihr nicht helfen ... sie braucht mich nicht. Wie sie es sagte. Sie braucht mich nicht und sie will mich auch gar nicht. Ich bin vielleicht ein Gefährte für sie, jemand, mit dem man reist. Mit dem man gut klar kommt. Den man vielleicht sogar mag. Hey, ich habe auch lange nichts anderes in ihr gesehen. Aber lieben ... das ist schon viel verlangt. Besonders bei jemandem, der völlig anders ist als man selbst. Juraviel ist wie sie. Natürlich liebt sie ihn ... Er wandte sich ab, vergrub das Gesicht in den Händen. Er hatte es geahnt ... und dieses Gefühl einfach ignoriert. Egoistisch und dumm war er gewesen, hatte in Wunschvorstellungen gelebt und zugelassen, dass sein Herz von ihr abhängig wurde. Er konnte seines Vaters Stimme beinahe hören. Es ist Träumerei, sich an fremde Menschen zu binden und sich vorzumachen, man könne immer bei ihnen bleiben ! So war es eben. Er war gewarnt worden, hatte die Warnung in den Wind geschlagen und war ins offene Messer gelaufen. Er war selbst Schuld, dass es ihm schlecht ging. Er sah auf Zylya. Es war nicht ihre Schuld, sie hatte nichts falsch gemacht. Er verstand, dass sie ihm seinen eigenen Unsinn um die Ohren geschlagen hatte. Sie hatte recht gehabt. Er sollte ihr dankbar sein, dass sie ihm seine Grenzen wieder gezeigt hatte. Er starrte in die Nacht. Ich bin so dumm gewesen. Und ich bin es immer noch ... nur weil ich bei ihr sein will, ignoriere ich ihre und ihrer aller Sicherheit. Der Dämon. Der Zant, der ihn hatte entkommen lassen, um ihn weiter jagen zu können. Er war ihm ohne Zweifel auf der Spur. Und er würde sich sicher die zufällige Möglichkeit, noch mehr Menschen zu töten, nicht entgehen lassen. Wieso sitze ich hier herum und suhle mich in Selbstmitleid ? Da sage ich mir, ich liebe sie, aber ihren Tod riskiere ich einfach. Und Kassandra und ihre Gefährten ? Sie haben mich geheilt, sie kümmern sich um Zylya. Und ich riskiere, dass sie wegen meiner verletzten Eitelkeit zerfleischt werden ? Ich bin ein undankbarer, verantwortungsloser, selbstmitleidiger und egoistischer Mistkerl. Mit einem Ruck legte er die Decke ab, gab seinen Körper der Kälte preis, und als er fröstelte, spürte er nichts als Einverständnis. Es geschah ihm ganz recht. Ohne Rücksicht auf seine weichen Knie und den schwachen Kreislauf stand er auf, taumelte kurz und zwang sich fast gewaltsam ins Gleichgewicht. Er bückte sich nach seinem Rucksack, durchwühlte ihn grob nach Kleidung. Er bekam Stoff zu fassen und zerrte ihn hervor. Trotz allem hätte er fast gelächelt: Es war seine alte rote Kutte, die er seit Jahren mit sich herumschleppte, sentimental, in der Hoffnung, irgendwann wieder unter seinem eigenen Namen und mit dem, was ihm gefiel, leben zu können. Er hatte ich seine erste rote Kutte gekauft, als er die Akademie in Belhanka verlassen hatte, verlassen musste, den ersten Ort, der ihm jemals wirklich eine Heimat gewesen war. Er hatte sich diese Kutte gekauft, um sich selbst die Kraft zu geben, allein zurecht zu kommen. Er starrte auf das dunkle, leuchtende Rot. Damals hatte er schneller Kameraden gefunden, als er für es für möglich gehalten hatte. Unter ihnen Kassandra. Und Zylya. Er war nicht allein gewesen. Aber jetzt ... jetzt musste er stark sein. Jetzt musste er zurechtkommen. Der Zant bedrohte Menschen, die ihm Halt gegeben hatten, als er ihn brauchte. Er würde sie mit allem verteidigen, was er an Kraft noch hatte. Das war das mindeste, wie er sich revanchieren konnte. Er streifte die Kutte über Hemd und Hose. Er wollte gerade aufstehen, als aus dem Rucksack ein Päckchen rutschte, so unvermittelt, dass es kaum an Zufall glauben ließ. Nach kurzem Zögern bückte er sich, hob es auf und schnürte es auf. Der Onyxanhänger, der hesindianische Stein, der ihm nach der Rettung der Pantheonsteine überreicht worden war und den er seit Ewigkeiten nicht getragen hatte, glitt in seine Handfläche. Er starrte ihn an. Der Stein funkelte. " Hesinde", flüsterte er, schloss die Augen, ließ den Stein auf sich wirken. Ihre Kraft, tief in seiner Seele ruhend, schien sanft aufzuglühen. Es war ein ungeheuer beruhigendes, tröstliches und ermutigendes Gefühl. Die Göttin, die er seit seiner frühesten Kindheit kannte, die ihn immer begleitet, die erst seine Eltern und dann ihn mit ihrer Kraft berührt und ihnen ihre Macht geschenkt hatte, damit sie damit Gutes taten, war bei ihm. Er schlug die Augen wieder auf, legte sich die Kette mit dem Stein um und griff nach seinem Stab. Er war lange genug auf sich selbst konzentriert gewesen. Gutes zu tun und Menschen zu helfen ... das hatte er viel zu lange vernachlässigt. Er warf einen letzten Blick auf Zylya. Ihr Anblick erweichte einen Teil der Bitternis, die in den letzten Minuten von ihm Besitz ergriffen hatte, Süße regte sich in seinem Herzen. Jetzt kannst du beweisen, dass du sie liebst. Nicht unbedingt ihr. Aber du kannst dir selbst beweisen, dass deine Gefühle nicht nur pure Selbstverliebtheit waren. Ihren Tod könntest du nicht ertragen ? Dann sorg dafür, dass der Zant sie nicht kriegt. Sie nicht, und die anderen auch nicht. Er wandte sich ab, trat über die schlafende Kassandra hinweg und ging über den Lagerplatz auf den Waldrand zu, tastete nach den astralen Fäden, die in der Atmosphäre schwammen, suchte nach Dämonenpräsenz. Er fühlte nichts, aber das musste nichts heißen. Wenn er vom Lager fortging, lockte er auch den Dämon vom Lager fort. Gerade wollte er einen ersten Schritt in den Wald tun, als er den Blick zwischen seinen Schulterblättern fühlte. Er blieb stehen, drehte sich mit starrem Gesicht um. Er würde sich nicht aufhalten lassen, und er würde sich nicht begleiten lassen. Er würde seine Fehler ganz alleine wieder ausbügeln. Sperber, der Halbelf, saß auf der ihm gegenüberliegenden Seite der Feuerstelle, an einen Baum gelehnt. Sein unheimlicher, goldener Blick ruhte auf ihm, das Gesicht prüfend, gespannt. Momentelang sahen sie sich in die Augen. " Wo willst du hin ?" Sperbers dunkle und dennoch leicht feminine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Lares antwortete nicht gleich. Er kannte Sperber noch nicht lange, und doch wusste er, dass dieser ernste und schweigsame Mann schwer zu bestimmenden Alters von allen hier derjenige war, der seine Gründe am ehesten gelten lassen würde. Er konnte diesen Eindruck nicht rechtfertigen, doch irgendwie wusste er, dass es stimmte. "Ich muß weg." Sperber legte in einer leicht vogelhaften Bewegung den Kopf schief, eine fremdartige Bewegung, die Lares erneut vor Augen führte, dass Sperber einfach kein richtiger Mensch war, auch wenn er es schon wusste und schon an anderen Äußerlichkeiten gesehen hatte. Er hatte das Gefühl, noch etwas sagen zu müssen. "Es ... es gibt Dinge, die sind wichtiger als andere." Sperber nahm diese Worte scheinbar reaktionslos auf, ohne den Blick abzuwenden, lange Momente fühlte Lares sich mit feinen Fühlern abgetastet. Er hielt der Musterung bewegungslos stand. Schließlich senkte der Halbelf die Augen und richtete seine Aufmerksamkeit scheinbar auf das Feuer. Lares war ihm sehr dankbar. Er wandte sich ab und schritt in den finsteren Wald, murmelte nach einer Weile "Stab zu Fackel !" und ging im kalten, künstlichen Licht der weißen Flamme am Kopf seines Stabes davon. Seine Angst war nur ein winziges Flüstern: Hoffentlich, hoffentlich finde ich den Zant, bevor er mich findet ... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)